198 - In der Spiegelwelt
Silver. »Jeder Herrscher muß mit der Möglichkeit einer Revolution rechnen. Dann kann so ein Schlupfloch die letzte Rettung sein.«
Der Ex-Dämon zog das Höllenschwert aus der Lederscheide, die er am Rücken trug. Die Sicht wurde immer schlechter. Das bedeutete, daß sie die Pforte schon fast erreicht hatten. Der Hüne streckte seine Geistfühler aus. Sie wiesen ihm den richtigen Weg und machten ihn auch auf die Gefahr aufmerksam, der er sich Schritt für Schritt näherte. Da war eine Wand… im Nichts! Hoch, breit, undurchdringlich! Und da war ein Loch! So verschwindend klein, gemessen am gesamten Wehr-Komplex der Spiegelwelt, daß man es nur fand, wenn man sehr konzentriert danach suchte - und das hatte Roxane, die Hexe aus dem Jenseits, getan. Mr. Silver spürte die Wärme von Fleisch - Leben, von schwarzem Blut durchpulst. Ein Feind, der nicht sehr wachsam war. Er verließ sich wohl darauf, daß kaum jemand diese Pforte kannte.
»Wer immer sich dort vorn befindet«, raunte der Hüne seiner schlanken, schwarzhaarigen Freundin zu, »er ist ein Nagel zu Atax’ Sarg!«
***
Orasya kauerte zitternd und schluchzend auf dem Boden. Sie fürchtete sich nun vor Agassmea, die wieder zur betörenden Frau geworden war. Als Agassmea mit der Hand die nackte Schulter des blonden Mädchens berührte, stieß es einen heiseren Schrei aus.
»Du befürchtest, ich hätte dich vor den Banditen gerettet, um dich selbst töten zu können, nicht wahr?« sagte die Tigerfrau.
Orasya antwortete nicht, aber Agassmea wußte, daß sie mit ihrer Vermutung recht hatte.
»Wahrscheinlich würde das zutreffen, wenn ich ein Wesen dieser Welt wäre«, sagte die Tigerfrau. »Aber das bin ich nicht. Meine Heimat ist nicht Coor.«
Als Orasya das hörte, hörte sie auf zu weinen und hob langsam den Kopf. Ihr Blick tastete sie durch den Tränenschleier neugierig ab.
»Kennst du die schwarze Wolkenburg der Grausamen 5?« fragte Agassmea.
Orasya zuckte zusammen, als hätte die Tigerfrau sie geschlagen.
»Da muß ich hin«, sagte Agassmea.
Das junge Mädchen sah die Tigerfrau entgeistert an. »Niemandem würde es einfallen, sich freiwillig dorthin zu begeben. Was willst du dort?«
»Ich muß dem Anführer der Grausamen 5 eine Botschaft überbringen«, log die Tigerfrau. »Kennst du den kürzesten Weg zur Wolkenburg?«
Orasya nickte.
»Würdest du ihn mir zeigen?« fragte Agassmea.
»Nur, weil ich in deiner Schuld stehe«, gab das junge Mädchen leise zurück. »Sonst würde ich es nicht tun.« Ein zufriedenes Lächeln umspielte die vollen Lippen der Tigerfrau. »Ich habe Durst. Wo kann ich trinken?« Orasya biß sich auf die Unterlippe. »Ich… kenne eine Quelle… im Wald…«, sagte das blonde Mädchen schleppend.
»Ist es weit?«
Orasya schüttelte den Kopf. »Nicht sehr weit, aber…«
»Aber? Was ist mit dem Wald?«
»Es ist gefährlich, ihn zu betreten. Dort lebt Navupar. Da du nicht von dieser Welt bist, weißt du nicht, wer das ist. Navupar ist ein grausamer Mörder. Er ist tot und lebt doch. Uralt soll er sein, doch das sieht man ihm nicht an. Er sieht aus wie ein strahlender Jüngling, und wenn man ihm in die Augen sieht, ist man verloren. Navupar ernährt sich vom Blut seiner Opfer. Er trinkt es und bekommt nie genug davon.«
»Er ist ein Vampir, nicht wahr?« Orasya nickte ängstlich. »Der Wald gehört ihm. Er kann sich in eine große Fledermaus verwandeln und fliegen.«
»Dann muß er schon sehr alt sein«, meinte Agassmea und lächelte kalt. »Aber er wird unser Blut nicht bekommen, verlaß dich darauf!«
Orasya hoffte, daß Agassmea recht behielt. Sie hatte die Tigerfrau kämpfen sehen und konnte sich vorstellen, daß sie auch mit dem blutrünstigen Vampir fertig werden konnte.
»Du stehst unter meinem persönlichen Schutz«, sagte Agassmea. »Niemand kann dir etwas anhaben. Glaubst du mir das, oder zweifelst du an meinen Worten?«
»Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln«, antwortete Orasya.
Sie kannte Agassmea nicht. Keinen Finger würde die Tigerfrau für das Mädchen rühren, wenn es nicht in ihrem Interesse lag. Agassmea war wie alle Schwarzblütler. Man konnte sich nicht auf sie verlassen.
Doch das wußte die naive Orasya nicht, deshalb vertraute sie ihrer Retterin und führte sie in den dunklen, verfilzten Wald - in Navupars Reich. Tageslicht bekommt Vampiren im allgemeinen nicht, doch Navupar hatte es irgendwie geschafft, diesen Fluch seiner Gattung abzuwehren.
Orasya sagte, er wäre der einzige
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