198 - Sohn und Dämon
als ihren Gott verehrten – bis ein schwarz gekleideter Kämpfer auftauchte, der sie Ketzer nannte, mich entführte und im ewigen Eis verbarg. Unter einer Kultstätte seines Gottes, der mich wohl in Schach halten sollte. Tatsächlich war ich dort machtlos, so weit entfernt von allem Grün – bis du kamst und mich mitgenommen hast.«
Aruula blickte auf. Die Farben und Formen des Waldes und des Wesens verschwammen immer mehr miteinander. Die Dämmerung brach allmählich an. GRÜN schien sich darin aufzulösen. Kaum konnte sie seine Umrisse noch erkennen.
Nur die roten Blütenaugen leuchteten. »Dieser fremde Krieger – das hört sich nach einem Rev’rend an«, überlegte sie. »Sie bekämpfen alles, was nicht ihrem Glaubensbild entspricht, mit gnadenloser Härte. – Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum haben die Daa’muren mir den Sohn genommen?«
»Ich sagte schon, dass sie mich vernichten wollten. Sie hatten erkannt, wie mächtig ich sein würde, wenn ich meinen Geist von Wurzel zu Wurzel, Blatt zu Blatt und Halm zu Halm verbreiten würde. Einen ganzen Wald könnte ich mit meinem Willen erfüllen. Ich wäre nicht mehr zu kontrollieren. Das machte ihnen offenbar Angst. Und dieselbe Sorge müssen sie empfunden haben, als sie meine Signatur in dir wiederfanden – in dem Kind in deinem Bauch. Darum beschlossen sie, es zu holen.«
Aruula versuchte zu verstehen. Was das Pflanzenwesen da sagte, sprengte schier ihre Vorstellungskraft. »Heißt das, du bist in allen Pflanzen gegenwärtig, mit denen du je in Berührung gekommen bist?« Sie konnte nur noch flüstern, so fassungslos war sie.
Der Pflanzengott verstand sie trotzdem. »Wenn ich sie mit meinem Geist befruchte, ja. Die Verbindung mit deinem Sohn kam allerdings nicht bewusst zustande. Ich hatte nie zuvor – und habe es nie wieder – mein Erbgut mit dem eines Menschen verbunden. Er ist einzigartig auf dieser Welt. Aber ja: Er trägt meinen Geist in sich.«
Aruula suchte nach Worten und rang um Atem. »Lebt dein Erbgut denn in vielen Pflanzen? Ich meine – gibt es dich an vielen Orten der Welt?«
»Dessen kannst du sicher sein«, tönte es aus dem dämmrigen Wald. »Als ich deinen Körper wieder verlassen hatte, konnte ich mich unbemerkt verbreiten. Meine Ableger wachsen als gewöhnlich aussehende Pflanzen auf. Du wirst sie auf den ersten Blick niemals erkennen.« Dutzende von astartigen Tentakeln zog GRÜN aus Baumkronen und Unterholz und deutete in den Wald hinein. »Birken, Weiden, Pilze, Brabeelensträucher, Gras – überall ist meine Macht gegenwärtig. Von der Weltgegend, die ihr früher Sibirien genannt habt, bis hinein in die östlichen Bereiche des Kontinents, den ihr Euree nennt, sind meine Ableger verbreitet.«
Aruula schwieg. Sie ahnte, dass GRÜN eine sehr gefährliche Macht werden konnte, sollte er sich eines Tages gegen die Menschen wenden.
»Als die Daa’muren meine Signatur am Kratersee entdeckten, wollten sie mehr über meine Entwicklung erfahren«, fuhr GRÜN fort. »Also haben sie sich unseren Sohn genommen, um ihn aufzuziehen und zu beobachten. Äußerlich mag er wie ein Mensch erscheinen, doch sein Denken und Handeln ist das eines Daa’muren. Er ist dir fremd, Aruula, und er tut Dinge, die dir befremdlich erscheinen werden.«
Aruula spürte Tränen in sich aufsteigen. Es gelang ihr nur wenige Sekunden, sie zu unterdrücken, dann brach die Verzweiflung aus ihr hervor und sie warf sich auf den Waldboden und begann laut zu schluchzen. Zu viel war in den letzten Minuten auf sie eingestürmt. Ihre Finger und ihre Stirn bohrten sich in das feuchte Gras. Heulkrämpfe schüttelten ihren Körper.
GRÜN ließ ihr Zeit. Erst als ihr Weinen allmählich in leises Schluchzen überging, raunte wieder seine Stimme aus dem Wald. »Er nennt sich übrigens Daa’tan. Die Fähigkeiten, die ich ihm vererbt habe, hat er längst entdeckt. Und jetzt höre, was ich dir sage: Hüte dich vor ihm. Er ist gefährlich.«
Es wurde still. Nur das Rauschen der Laubkronen im nächtlichen Wald und die sanfte Brandung des Sees hinter sich hörte Aruula noch. Sie drehte sich um. Ein Säugling krabbelte auf sie zu.
Aruula fuhr wieder zum Wald herum. Die Konturen des Pflanzengottes waren inzwischen vollständig mit Büschen, Bäumen und Unterholz verwuchert. »Nein!«, sagte sie entschlossen. »Er ist nicht gefährlich! Er ist mein Sohn!«
»Er kennt meine und seine Fähigkeiten«, wisperte ein dünnes Stimmchen irgendwo unter ihr. Aruula hob ihre
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