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198 - Sohn und Dämon

198 - Sohn und Dämon

Titel: 198 - Sohn und Dämon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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benutzen.«
    Aruulas Erinnerungen waren verschwommen; sie hatte diese Wochen wie in Trance erlebt. »Und als wir die ersten Bäume erreichten…«
    »… verließ ich dich und wechselte in sie über«, vollendete GRÜN den Satz. [4]
    »Doch zuvor hattest du einen reproduktiven Kontakt mit deinem Gefährten. Ich hatte es zwar nicht beabsichtigt, aber es scheint, als wären dabei auch meine Anlagen in den Zeugungsprozess mit eingeflossen. Der Junge besitzt ganz eindeutig meine Pflanzennatur. Andernfalls könnte ich jetzt kaum mit dir reden.« Er zog seinen Arm wieder ein und streckte ihn nach einer Weide aus, die nicht weit von ihm stand. Fast sah es aus, als würde er sich in der Weidenkrone festhalten.
    Aruula starrte das ungeheuerliche Wesen an und suchte nach Worten. Die feinen Fasern, die aus der Oberseite seines Doldenschädels sprossen, hatten eine grünlich-silbrige Färbung angenommen. Ein paar Atemzüge lang glaubte Aruula, feinste Wasserfontänen würden aus der Blütenpracht sprühen. »Das… das kann doch nicht…«, stammelte sie.
    Gleichzeitig aber wusste sie, dass das bizarre Wesen die Wahrheit sprach. Jetzt erinnerte sie sich wieder genau: Fünf Winter war das her. Aiko und Maddrax waren damals bei ihr gewesen. Sie hatten in der Ruine einer Kapelle übernachtet, und sie hatte auf dem Altar geschlafen. Nach einer Nacht voller seltsamer Träume hatte sie einen Spalt in dem Steinblock entdeckt, einen geheimen Gang gefunden und war ihm gefolgt.
    In dem unterirdischen Gang hatte sie sich dann am Dorn einer Pflanze verletzt. In der Erinnerung schmeckte sie ihr eigenes Blut, als sie den verletzten Finger in den Mund steckte.
    Die Wunde wollte lange nicht heilen.
    »Damals bin ich in deinen Körper eingedrungen«, sagte GRÜN, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Vermutlich hatte er das auch. »Ich wurde ein Teil von dir.«
    Es war jetzt nicht mehr zu übersehen, dass GRÜN wuchs.
    Die unförmige Pflanzenkugel seines Brustkorbs blähte sich auf, die türkisfarbenen Schuppen des gigantischen Pinienzapfens schienen zu pulsieren. Mal leuchteten sie grün, mal blaurot.
    Die Gestalt des Pflanzenwesens reichte inzwischen bis zu den Wipfeln der höchsten Bäume am Waldrand des Seeufers.
    Hunderte lianenartige Arme schienen mit den Baumkronen zu verwachsen. Seine gelben und türkisfarben Finger im Geäst der anderen Bäume sahen aus wie lange Blütenkelche. Kaum konnte man das Geäst der Bäume des Uferwaldes noch von den holzigen, rindigen Gelenken des Pflanzenwesens unterscheiden.
    Aruula drehte sich um und schaute wieder nach dem Knaben. Zehn oder zwölf Schritte entfernt hockte er in der Seebrandung. Er schien zu schrumpfen und sich zugleich zu verjüngen. Wie ein Acht- oder Neunjähriger sah er aus. Er winkte ihr zu und lächelte scheu.
    »Kann es denn sein?«, flüsterte sie zu sich selbst. »Ist er es wirklich…?«
    Sie wandte sich wieder an das Wesen, musste den Kopf in den Nacken legen, um zu dem Blütendoldenschädel aufzublicken. »Und nun wächst er… wie eine Pflanze? Ist er deshalb schon so groß?« Fassungslos starrte Aruula das Pflanzenwesen an.
    Die gigantische Artischocke seines Unterleibs durchmaß bereits fünf oder sechs Speerlängen und hatte sich in Tausende dunkelgrüne, lindgrüne, und braungelbe Blätter zerfiedert.
    Einige dieser Blätter waren rot gerändert, und jedes war so groß und dick, dass ein Mensch darauf hätte liegen können.
    »Das ist mein Segen und mein Fluch«, tönte es von allen Seiten aus dem Wald. Wie unzählige Wurzelstränge verloren sich die Beine des Wesens zwischen den Stämmen und im Unterholz. Kaum konnte Aruula den Wald und das Pflanzenwesen noch unterscheiden. Eine armdicke Liane kroch aus der Weidenkrone und wuchs über Aruula hinweg Richtung Seeufer.
    Sie drehte sich um und folgte ihr mit Blicken. Der Knabe am Seeufer hatte sich in ein vierjähriges Kleinkind verwandelt.
    Es besaß lange schwarze Locken – wie sie. Im seichten Uferwasser des Sees spielte es mit dem Schlamm. Plötzlich hob es das Köpfchen und strahlte Aruula aus dunkelblauen Augen an; dunkelblaue Augen wie ihre.
    »Mama!«, rief es. »Mama…!«
    ***
    Die Telepathen hatten sich am Rand des Lagers versammelt.
    Alle palaverten und riefen sie durcheinander. Ihr Rädelsführer war ein junger Bursche mit Schlitzaugen und einem ziemlich großen Säbel. Er trug ein weißes Stirntuch, hatte schwarzes, zu einem Zopf geflochtenes Haar und einen für sein zartes Alter auffallend langen Schnurrbart. Er

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