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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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versuchte er, die Porzellankacheln an den Wänden der Zelle zu zählen. Es mußte ganz leicht sein, aber er verzählte sich immer wieder an der einen oder anderen Stelle. Noch öfter fragte er sich, wo er sich wohl befand und welche Tageszeit es war. In dem einen Augenblick hatte er das sichere Gefühl, draußen sei heller Tag, im nächsten war er ebenso sicher, daß stockfinstere Dunkelheit herrschte. Hier an diesem Ort, wußte er instinktiv, wurde nie die künstliche Beleuchtung ausgeschaltet. Es war der Ort, an dem es keine Dunkelheit gab: Er erkannte jetzt, warum O'Brien die Anspielung verstanden zu haben schien. Im Ministerium für Liebe gab es keine Fenster. Seine Zelle konnte im Innersten des Gebäudes gelegen sein oder hinter seiner Außenmauer, zehn Stockwerke unter dem Erdboden oder dreißig darüber. Er versetzte sich im Geist von Ort zu Ort und versuchte gefühlsmäßig zu entscheiden, ob er sich hoch droben in der Luft befand oder tief unter der Erde begraben war.
    Von draußen kam das Dröhnen marschierender Stiefel. Die Stahltür öffnete sich mit einem Klirren. Ein junger Offizier, eine schmucke schwarzuniformierte Gestalt, die von Kopf bis Fuß von poliertem Leder zu glänzen schien und deren bleiches, streng geschnittenes Gesicht wie eine Wachsmaske war, trat forsch durch den Türeingang. Er gab den draußen stehenden Wachen ein Zeichen, den von ihnen geführten Gefangenen hereinzubringen. Der Dichter Ampleforth torkelte in die Zelle. Die Tür schloß sich klirrend wieder.
    Ampleforth machte ein paar unsichere Bewegungen von einer Seite zur anderen, so als schwebe ihm etwas von einer anderen Tür vor, durch die er hinaus müsse. Dann begann er in der Zelle hin und her zu gehen. Er hatte Winstons Anwesenheit noch nicht bemerkt. Seine verwirrten Augen starrten etwa einen Meter über Winstons Kopfhöhe auf die Wand. Er war ohne Schuhe; große schmutzige Zehen lugten aus den Löchern in seinen Socken hervor. Auch war er seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert. Ein struppiger Bart bedeckte sein Gesicht und verlieh ihm das Aussehen eines Straßenräubers, das schlecht zu seinem aufgeschossenen zarten Körper und seinen nervösen Bewegungen paßte.
    Winston richtete sich ein wenig aus seiner Lethargie hoch. Er mußte mit Ampleforth sprechen und es auf sich nehmen, durch den Televisor angebrüllt zu werden. Es war sogar denkbar, daß Ampleforth der Bote mit der Rasierklinge war.
    »Ampleforth«, sagte er.
    Aus dem Televisor erfolgte kein Anbrüllen. Ampleforth blieb ein wenig verblüfft stehen. Seine Augen richteten sich langsam auf Winston.
    »Ach, Smith!« sagte er. »Sie auch!«
    »Weswegen sind Sie hier?«
    »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen –.« Er setzte sich linkisch Winston gegenüber auf die Bank. »Es gibt nur ein Verbrechen – oder nicht?« sagte er.
    »Und haben Sie es begangen?«
    »Offenbar ja.«
    Er legte eine Hand an seine Stirn und preßte einen Augenblick seine Schläfen, so als versuche er sich an etwas zu erinnern.
    »Diese Dinge passieren eben«, begann er unbestimmt. »Es ist mir gelungen, mir einen Fall ins Gedächtnis zurückzurufen – einen möglichen Fall. Es war zweifellos eine Unklugheit. Wir stellten eine definitive Ausgabe der Gedichte Kiplings zusammen. Ich ließ das Wort ›Gott‹ am Ende einer Verszeile stehen. Ich konnte nicht anders!« fügte er nahezu ungehalten hinzu, indem er das Gesicht hob, um Winston anzusehen. »Es war einfach unmöglich, die Verszeile zu ändern. Der Reim endete mit ›Trott‹. Wissen Sie, daß es in unserer ganzen Sprache nur äußerst wenige Reime auf ›Trott‹ gibt? Tagelang zerbrach ich mir den Kopf. Es gab einfach keinen anderen Reim.«
    Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Der Ärger verschwand daraus, und einen Augenblick sah er fast zufrieden aus. Eine Art geistiger Hochstimmung, die Freude des Pedanten, der eine nutzlose Tatsache entdeckt hat, leuchtete durch den Schmutz und das Haargestrüpp.
    »Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen«, sagte er, »daß die ganze Entwicklung der englischen Dichtkunst durch die Tatsache bestimmt wurde, daß es in der englischen Sprache nicht genug Reime gibt?«
    Nein, dieser besondere Gedanke war Winston nie gekommen. Auch kam er ihm, unter den gegebenen Umständen, nicht sehr wichtig oder interessant vor.
    »Wissen Sie, was für eine Tageszeit es ist?« fragte er.
    Ampleforth machte wieder ein erschrockenes Gesicht. »Ich habe noch kaum darüber nachgedacht. Man verhaftete mich – es kann zwei,

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