1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
zur Qual wurde. Sogar im Schlaf konnte er sich nicht völlig von ihrem Bild freimachen. Während dieser Tage rührte er sein Tagebuch nicht an. Am ehesten fand er noch eine Erleichterung in seiner Arbeit, bei der er seinen Kummer manchmal für volle zehn Minuten vergessen konnte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was aus dem Mädchen geworden war. Er konnte keine Erkundigungen nach ihr anstellen. Sie konnte vaporisiert worden sein, konnte Selbstmord verübt haben oder ans andere Ende von Ozeanien versetzt worden sein: Am schlimmsten und wahrscheinlichsten von allem war die Möglichkeit, daß sie es sich vielleicht anders überlegt und beschlossen haben konnte, ihm künftig aus dem Weg zu gehen.
Am folgenden Tag tauchte sie wieder auf. Ihr Arm steckte nicht mehr in der Schlinge, statt dessen hatte sie einen Pflasterverband um ihr Handgelenk. Seine Erleichterung bei ihrem Anblick war so groß, daß er nicht umhin konnte, sie ein paar Sekunden lang unverwandt anzublicken. Am Tag darauf wäre es ihm um ein Haar gelungen, mit ihr zu sprechen. Als er in die Kantine kam, saß sie ganz allein an einem ziemlich weit von der Wand entfernten Tisch. Es war noch früh und der Raum nicht sehr voll. Die Schlange der Essenfassenden rückte langsam voran, bis Winston fast am Ausgabetisch stand, dann aber geriet sie für zwei Minuten ins Stocken, weil vorne jemand sich darüber beschwerte, seine Sacharintablette nicht erhalten zu haben. Noch aber saß das Mädchen allein, als Winston sein Tablett ergriff und auf ihren Tisch zusteuerte. Er ging wie zufällig auf sie zu, während seine Augen nach einem Platz am Tisch hinter ihr Ausschau hielten.
Sie war vielleicht drei Meter von ihm entfernt. Noch zwei Sekunden, und es würde soweit sein. Da rief hinter ihm eine Stimme: »Smith!« Er tat, als höre er nicht. »Smith!« wiederholte die Stimme lauter. Es half nichts.
Er mußte sich umdrehen. Ein blondköpfiger, dumm aussehender junger Mann namens Wilsher, den er kannte, forderte ihn mit einem Lächeln auf, sich auf einen freien Platz an seinem Tisch zu setzen. Es war nicht ratsam, die Einladung abzulehnen. Nachdem er einen Bekannten getroffen hatte, konnte er nicht einfach hergehen und sich an einen Tisch mit einem Mädchen ohne Begleitung setzen, das war zu auffallend. Er nahm mit einem freundlichen Lächeln Platz. Das dumme Blondgesicht strahlte ihn an, während Winston sich in Gedanken ausmalte, wie er mit einer Spitzhacke darauf losschlug. Ein paar Minuten später war der Tisch des Mädchens besetzt.
Aber sie mußte bemerkt haben, wie er auf sie zukam, und vielleicht verstand sie den Wink. Am nächsten Tag trug er Sorge, frühzeitig zu kommen. Tatsächlich saß sie an einem Tisch an ungefähr der gleichen Stelle, und wieder allein. Unmittelbar vor ihm in der Schlange stand ein kleiner, zappeliger, käferartiger Mann mit einem flachen Gesicht und winzigen argwöhnischen Augen. Als Winston mit seinem Tablett von der Theke wegging, sah er, daß der kleine Mann geradewegs auf den Tisch des Mädchens zusteuerte. Wieder sanken seine Hoffnungen. An einem etwas weiter entfernten Tisch war zwar auch noch ein Platz frei, aber der kleine Mann sah nicht so aus, als ob er sich die Bequemlichkeit des nächsten und am wenigsten besetzten Tisches entgehen lassen würde. Mit erstarrtem Herzen ging Winston hinter ihm drein. Es hatte nur Zweck, wenn er das Mädchen allein sprechen konnte. In diesem Augenblick gab es einen scherbenklirrenden Krach. Der kleine Mann lag auf allen vieren, sein Tablett war ihm aus der Hand geglitten, zwei Bäche von Suppe und Kaffee ergossen sich über den Fußboden. Er rappelte sich mit einem bösen Blick auf Winston auf, den er offenbar im Verdacht hatte, ihm ein Bein gestellt zu haben. Aber nichts weiter passierte. Fünf Sekunden später saß Winston mit pochendem Herzen am Tisch des Mädchens.
Er sah sie nicht an. Er stellte sein Tablett ab und begann sofort zu essen. Zwar kam alles darauf an, schnell zu sprechen, ehe jemand anders an den Tisch kam, aber eine schreckliche Beklemmung hatte von ihm Besitz ergriffen. Eine Woche war vergangen, seit sie sich ihm zum erstenmal genähert hatte. Vielleicht hatte sie ihren Sinn geändert. Ja, sie mußte ihn geändert haben! Es war unmöglich, daß diese Geschichte gut ausging; so etwas gab es nicht im wirklichen Leben. Vielleicht hätte er überhaupt kein Wort über die Lippen gebracht, wenn er nicht in diesem Augenblick Ampleforth, den Dichter mit den behaarten Ohren, mit
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