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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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vorüber. Winston war sich ihrer bewußt, obwohl er sie nur zeitweilig zu sehen bekam. Die Schulter und der rechte Arm des Mädchens waren an ihn gepreßt. Ihre Wange war ihm fast so nahe, daß er ihre Wärme spüren konnte.
    Genau wie damals in der Kantine hatte sie sofort die Situation in die Hand genommen. Sie begann zu sprechen, fast ohne die Lippen zu bewegen, mit einem bloßen Murmeln, das in dem Stimmengewirr und dem Geratter der Lastwagen unterging.
    »Können Sie mich verstehen?«
    »Ja.«
    »Können Sie sich am Sonntag Nachmittag freimachen?«
    »Ja.«
    »Dann hören Sie gut zu. Sie müssen es genau behalten. Sie fahren zum Paddington-Bahnhof –«
    Mit einer verblüffenden, geradezu militärischen Genauigkeit erklärte sie ihm den Weg, den er einzuschlagen hatte. Eine halbe Stunde Bahnfahrt; wenn er aus dem Bahnhof herauskam, mußte er sich links halten, zwei Kilometer die Straße entlang; dann kam ein Gattertor ohne Oberteil; ein Weg über ein Feld; ein vergraster Pfad; ein Fußweg zwischen Büschen hindurch; ein abgestorbener, moosbewachsener Baum. Es war, als habe sie die ganze Landkarte im Kopf. »Können Sie das alles behalten?« murmelte sie schließlich.
    »Ja.«
    »Sie gehen nach links, dann rechts, dann wieder links. Und das Tor hat oben keine Balken.«
    »Ja. Um welche Zeit?«
    »Gegen fünfzehn Uhr. Vielleicht müssen Sie warten. Ich komme auf einem anderen Weg hin. Sind Sie sicher, daß Sie sich an alles erinnern?«
    »Ja.«
    »Dann gehen Sie so rasch wie möglich von mir weg.«
    Das hätte sie ihm nicht zu sagen brauchen. Aber gerade jetzt konnten sie sich nicht aus der Menge herauswinden. Noch immer fuhren die Lastwagen vorbei, während die Menschen noch immer begierig zuschauten. Am Anfang hatte man ein paar Pfui- und Nieder-Rufe gehört, doch nur von den Parteimitgliedern unter der Menge, und sie hatten bald aufgehört. Das vorherrschende Gefühl war lediglich Neugierde. Ausländer, ob aus Eurasien oder aus Ostasien, waren so etwas wie fremdartige Tiere. Man sah sie buchstäblich nie, außer in der Gestalt von Gefangenen, und sogar als Gefangene bekam man nie mehr als einen flüchtigen Schimmer von ihnen zu Gesicht. Auch wußte man nicht, was aus ihnen wurde, abgesehen von den wenigen, die als Kriegsverbrecher gehängt wurden. Die übrigen verschwanden ganz einfach, vermutlich in Zwangsarbeitslagern. Die runden Mongolengesichter wurden jetzt von schmutzigen, bärtigen, erschöpften Gesichtern mehr europäischen Gepräges abgelöst. Über stoppelige Backenknochen hinweg blickten Winston Augen an, manchmal mit seltsamer Eindringlichkeit, dann waren sie wieder verschwunden. Die unter Bedeckung fahrende Kolonne ging ihrem Ende zu. Im letzten Lastwagen konnte er einen älteren Mann sehen, dessen Gesicht ein einziges Gestrüpp grauer Haare war; er stand aufrecht da, die Hände vor sich verschränkt, als sei er gewohnt, sie in Fesseln zu tragen. Es war höchste Zeit für Winston und das Mädchen, sich zu trennen. Im letzten Augenblick aber, während die Menge sie noch fest eingekeilt hielt, tastete ihre Hand nach der seinigen und gab ihr einen flüchtigen Druck.
    Obwohl es nicht länger als zehn Sekunden gedauert haben konnte, schien es eine lange Zeit, daß ihre Hände sich umspannt hielten. Er fand Zeit, jede Einzelheit ihrer Hand in sich aufzunehmen. Er erforschte ihre langen Finger, die schön geformten Nägel, die arbeitsharte Innenfläche mit ihrer Reihe von Schwielen, das weiche Fleisch unter dem Handgelenk. Allein durch Befühlen ihrer Hand hätte er sie wiedererkannt.
    Gleichzeitig aber fiel ihm ein, daß er nicht wußte, welche Farbe ihre Augen hatten. Vermutlich waren sie braun, aber brünette Menschen hatten manchmal blaue Augen. Den Kopf zu drehen und sie anzusehen, wäre eine unvorstellbare Torheit gewesen. Ihre Hände hielten sich umklammert, ungesehen in dem dichten Gedränge, während sie unentwegt geradeaus starrten, und statt der Augen des Mädchens blickten Winston die Augen des alten Gefangenen traurig aus einem Gewirr grauer Haare an.

Zweites Kapitel
    Winston suchte sich seinen Weg längs des von Licht und Schatten überspielten Fußpfades; jedes Mal, wenn die Büsche sich teilten, trat er in ganze Lachen goldenen Lichts. Zur Linken, unter den Bäumen, war der Boden übersät von blauen Glockenblumen. Die Luft berührte die Haut wie ein Kuß. Es war der zweite Tag des Monats Mai. Von irgendwo tiefer im Herzen des Waldes schlug das Gurren der Ringeltauben weich und

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