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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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verschwommen an sein Ohr.
    Es war noch ein wenig früh. Die Fahrt war ohne Schwierigkeiten vonstatten gegangen; das Mädchen war so augenscheinlich wohlbeschlagen, daß er weniger Angst empfand, als er normalerweise hätte haben müssen. Vermutlich konnte man sich darauf verlassen, daß sie einen sicheren Ort kannte. Im allgemeinen durfte man nicht annehmen, auf dem Lande sehr viel sicherer als in London selbst zu sein. Freilich gab es in der Natur keine Televisoren, aber es bestand immer die Gefahr verborgener Mikrophone, die eine Stimme auffangen und so zur Feststellung des Sprechers führen konnten; außerdem war es nicht leicht, eine Vergnügungsreise zu machen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Für Entfernungen von weniger als hundert Kilometern brauchte man zwar keine besondere Eintragung in seinen Paß, aber manchmal trieben sich auf den Bahnhöfen Streifen herum, die die Papiere jedes aufgegabelten Parteimitglieds prüften und peinliche Fragen stellten. Diesmal aber waren keine Streifen aufgetaucht, und auf dem Weg zum Bahnhof hatte er sich durch vorsichtiges Umblicken überzeugt, daß niemand ihn verfolgte. Der Zug war voller Proles gewesen, dank des sommerlichen Wetters in bester Ferienstimmung. Das Abteil der Holzklasse, in dem er gesessen hatte, war bis zum Bersten von einer einzigen riesigen Familie besetzt, die von einer zahnlosen Urgroßmutter bis zu einem kaum geborenen Wickelkind hinausfuhr, um einen Nachmittag bei Verwandten auf dem Land zu verbringen und, wie sie Winston offenherzig erklärten, etwas Schwarzmarkt-Butter zu hamstern.
    Das Gestrüpp lichtete sich, und eine Minute später kam er an den schmalen Weg, von dem sie gesprochen hatte; es war im Grunde nur eine Fährte, die das Vieh zwischen den Sträuchern ausgetreten hatte. Er besaß keine Uhr, aber es konnte noch nicht fünfzehn Uhr sein. Die Glockenblumen standen so dicht, daß man nicht vermeiden konnte, darauf zu treten. Er kniete nieder und begann ein paar zu pflücken, teils um sich die Zeit zu vertreiben, teils aus der undeutlichen Vorstellung heraus, daß es ganz nett wäre, dem Mädchen zur Begrüßung ein paar Blumen anbieten zu können.
    Er hatte schon einen großen Strauß zusammengebracht und sog den zarten süßlichen Duft ein, als ihn ein Geräusch in seinem Rücken erstarren ließ: das unverkennbare Knacken von Zweigen unter dem Gewicht einer Schuhsohle. Er pflückte weiter seine Glockenblumen. Es war das Klügste, was er tun konnte. Vielleicht war es das Mädchen, vielleicht aber war er doch verfolgt worden. Sich umzublicken war ein Beweis schlechten Gewissens. Er pflückte Blume auf Blume. Dann legte sich eine Hand auf seine linke Schulter.
    Er blickte auf. Es war das Mädchen. Sie schüttelte den Kopf, offenbar zum Zeichen, daß er sich still verhalten solle, dann teilte sie die Büsche und schlug rasch den schmalen Pfad ein, der in den Wald hineinführte. Offensichtlich hatte sie diesen Weg schon früher einmal begangen, denn sie wich mit Kennerschaft den morastigen Stellen aus. Winston ging hintendrein, noch immer seinen Blumenstrauß in der Faust. Sein erstes Gefühl war das der Erleichterung, aber als er den kräftigen, schlanken Leib vor sich hergehen sah, mit der scharlachroten Schärpe geschmückt, die gerade eng genug anlag, um die Rundung ihrer Hüften zu betonen, bedrückte ihn ein Minderwertigkeitsgefühl sehr heftig. Selbst jetzt schien es noch recht wahrscheinlich, daß sie, wenn sie sich umdrehte und ihn ansah, ihren Entschluß ändern würde. Die würzige Luft und das saftige Grün der Blätter schüchterten ihn ein. Schon auf dem Weg vom Bahnhof hatte er sich im Maiensonnenschein schmutzig und bleich wie eine Kellerpflanze gefühlt, wie ein rechter Stubenhocker, die Poren von dem Londoner Staub und Ruß verstopft. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß sie ihn bis jetzt noch nie bei hellem Tageslicht unter freiem Himmel gesehen hatte. Sie kamen jetzt zu dem umgestürzten Baum, der von ihr erwähnt worden war. Das Mädchen sprang darüber hinweg und teilte mit einigem Kräfteaufwand das scheinbar lückenlose Gebüsch. Als Winston ihr nachkam, entdeckte er, daß sie auf einer natürlichen Lichtung standen, einem kleinen, von Tannenbäumchen vollkommen eingeschlossenen Stück Rasen. Das Mädchen blieb stehen und wandte sich um.
    »Wir sind da«, sagte sie.
    Er blickte sie an, mehrere Schritte von ihr entfernt stehen bleibend. Noch wagte er nicht, näher zu kommen.
    »Ich wollte in dem Unterholz nicht

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