1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
wäre hundert- oder tausendmal gewesen. Alles, was auf Verderbtheit hinwies, erfüllte ihn immer wieder mit einer wilden Hoffnung. Wer weiß, vielleicht war die Partei unter ihrer Oberfläche faul und angekränkelt, vielleicht war ihr Kult von Tüchtigkeit und Selbstkasteiung einfach ein Schwindel, hinter dem sich das Laster verbarg. Was hätte er darum gegeben, die ganze Bande mit Lepra oder Syphilis anzustecken! Alles, was zur Verrottung beitrug, was schwächte, unterminierte! Er zog sie zu sich herunter, so daß sie von Angesicht zu Angesicht knieten.
»Hör zu. Je mehr von ihnen du gehabt hast, desto mehr liebe ich dich. Begreifst du das?«
»Vollkommen.«
»Ich hasse die Unschuld, ich hasse das Bravsein! Ich will nicht, daß es noch irgendwo eine Tugend gibt.
Ich will, daß alle Leute bis ins Mark verderbt sind.«
»Nun, dann dürfte ich die Richtige für dich sein, Liebling. Ich bin bis ins Mark verderbt.«
»Tust du es gerne? Ich meine, nicht nur mit mir: sondern einfach die Sache an sich?«
»Ich finde es herrlich.«
Das wollte er vor allem hören. Nicht nur die Liebe zu einem Menschen, sondern der animalische Trieb, die einfache, blinde Begierde: Das war die Kraft, die die Partei in Stücke sprengen würde. Er zog sie ins Gras, zwischen die herabgefallenen Glockenblumen. Diesmal stand keine Hemmung im Wege. Dann verlangsamte sich das Auf und Ab ihrer Brust zu normalem Rhythmus, und in seliger Hilflosigkeit sanken sie auseinander. Die Sonne schien heißer geworden. Sie waren beide schläfrig. Er streckte die Hand nach dem abgeworfenen Trainingsanzug aus und deckte sie, so gut es ging, damit zu. Fast gleich darauf schlummerten sie ein und lagen etwa eine halbe Stunde lang im Schlaf.
Winston erwachte zuerst. Er setzte sich auf und betrachtete das sommersprossige Gesicht, das noch friedlich schlafend auf ihren Handteller gebettet dalag. Von ihrem Mund abgesehen, konnte man Julia eigentlich nicht schön nennen. Um die Augen herum waren ein oder zwei Krähenfüße, wenn man genau hinsah. Das kurze dunkle Haar war ungewöhnlich dicht und weich. Es fiel ihm ein, daß er noch immer nicht ihren Nachnamen und ihre Adresse wußte.
Der junge, kräftige Körper, der jetzt im Schlaf so hilflos dalag, weckte in ihm ein mitleidiges Beschützergefühl. Aber die unbewußte Zärtlichkeit, die er unter dem Haselnußstrauch, beim Lied der Drossel empfunden hatte, wollte sich nicht wieder genauso einstellen. Er schob den Trainingsanzug beiseite und betrachtete nachdenklich ihren weißen, weichen Leib. Früher, mußte er denken, sah ein Mann den Leib eines Mädchens an und fand ihn begehrenswert, und damit Schluß! Aber heutzutage gab es so etwas wie eine reine Liebe oder reine Lust überhaupt nicht mehr. Keine Gefühlsregung war ungebrochen, denn alles war mit Angst und Haß durchsetzt. Ihre Umarmung war ein Kampf gewesen, der Höhepunkt ein Sieg. Es war ein gegen die Partei geführter Schlag. Ein politischer Akt.
Drittes Kapitel
»Wir können noch einmal hierher kommen«, meinte Julia. »Im allgemeinen darf man es riskieren, ein Versteck zweimal zu benutzen. Aber natürlich nicht in den nächsten ein oder zwei Monaten.«
Sobald sie aufgewacht war, hatte sich ihr Benehmen geändert. Sie wurde flink und sachlich, zog ihre Kleider an, schlang sich die scharlachrote Schärpe um die Hüften und begann die Einzelheiten für die Rückfahrt zu besprechen. Ihr das zu überlassen, erschien einem ganz natürlich. Sie besaß offenbar eine praktische Geschicklichkeit, die Winston fehlte, und anscheinend auch eine umfassende Kenntnis der ländlichen Umgebung Londons, die sie auf zahllosen Gemeinschaftswanderungen gesammelt hatte. Der Weg, den sie ihm für die Rückkehr empfahl, war ein ganz anderer als der, auf dem er hergekommen war, und ließ ihn an einer anderen Bahnstation herauskommen. »Fahre nie auf dem gleichen Weg nach Hause, auf dem du hergekommen bist«, riet sie ihm, als verkünde sie einen wichtigen, allgemein gültigen Lehrsatz.
Sie würde als erste aufbrechen, und Winston sollte eine halbe Stunde warten, ehe er ihr nachkam.
Sie hatte ihm einen Ort genannt, an dem sie sich vier Tage später abends nach der Arbeit treffen konnten.
Es war eine Straße in einem der ärmeren Viertel, in der es einen sogenannten Freien Markt gab, auf dem gewöhnlich Lärm und Gedränge herrschte. Sie würde sich dort zwischen den Verkaufsständen herumtreiben und so tun, als suche sie nach Schnürsenkeln oder Nähgarn. Wenn sie die
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