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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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daß »sie« einem alles Vergnügen rauben wollte, wie daß man selbst versuchte, sich nicht erwischen zu lassen. Sie haßte die Partei und sprach das in den derbsten Worten aus, aber sie übte generell keine Kritik an ihr. Von den Punkten abgesehen, wo ihr eigenes Leben damit in Konflikt kam, hatte sie keinerlei Interesse an den Doktrinen der Partei. Winston bemerkte, daß sie niemals Neusprachworte benutzte, außer den wenigen, die in die Umgangssprache eingegangen waren. Sie hatte nie etwas von der »Brüderschaft«   gehört und lehnte es auch ab, an ihr Vorhandensein zu glauben. Jede Art organisierter Auflehnung gegen die Partei, die ja notwendigerweise fehlschlagen mußte, hielt sie für dumm. Gegen die Gesetze zu verstoßen und dabei selbst am Leben zu bleiben – darauf kam es an. Er fragte sich mit einem unbestimmten Gefühl, wie viele Menschen ihres Typus es wohl unter der jüngeren Generation geben mochte – Menschen, die in die Welt der Revolution hineingewachsen waren und nichts anderes kannten, die die Partei als etwas so Unabänderliches wie den Himmel zu ihren Häuptern hinnahmen, ohne sich gegen ihre Autorität aufzulehnen, sondern ihr einfach auswichen, wie ein Hase hakenschlagend einem Hunde zu entkommen sucht.
    Sie sprachen nicht über die Möglichkeit einer Heirat. Sie lag zu fern, um sich überhaupt damit zu beschäftigen. Man konnte sich keinen Prüfungsausschuß vorstellen, der eine solche Verbindung jemals genehmigen würde, selbst wenn Winston seine Frau Katherine irgendwie hätte loswerden können. Es war zwecklos, sich das auch nur auszumalen.
    »Wie war eigentlich deine Frau?« fragte Julia.
    »Sie war – kennst du das Neusprachwort gutdenkvoll ? Es bedeutet: von Natur aus orthodox, unfähig, einen Unvorschriftsmäßigen Gedanken auch nur zu fassen.«
    »Nein, ich kannte das Wort nicht. Aber diese Sorte Menschen kenne ich nur zu gut.«
    Er begann ihr die Geschichte seiner Ehe zu erzählen, aber seltsamerweise schien sie das Wesentliche davon bereits zu kennen. Sie beschrieb ihm, als habe sie es selber miterlebt oder gefühlt, wie Katherines Körper erstarrte, sobald er sie nur berührte, und wie sie ihn selbst dann noch mit ihrer ganzen Kraft von sich wegzustoßen schien, wenn ihre Arme eng um ihn geschlungen waren. Es bereitete ihm keine Schwierigkeit, mit Julia über solche Dinge zu sprechen: Katherine war jedenfalls längst keine schmerzliche Erinnerung mehr, sondern nur noch eine unangenehme.
    »Ich hätte es noch aushallen können, wenn nicht eine Sache gewesen wäre«, sagte er. Und er erzählte ihr von der frigiden kleinen Zeremonie, die ihn Katherine gezwungen hatte, allwöchentlich in der gleichen Nacht auszuführen. »Es war ihr greulich, aber nichts in der Welt hätte sie dazu bringen können, es bleiben zu lassen.
    Sie nannte es immer – aber das errätst du nie.«
    »Unsere Pflicht gegenüber der Partei«, sagte Julia prompt.
    »Woher weißt du das?«
    »Ich war schließlich auch in der Schule, mein Lieber. Aufklärungsunterricht für junge Mädchen über sechzehn, einmal im Monat. In der Jugendbewegung desgleichen. Sie trichtern einem das Jahre hindurch ein. Und ich kann wohl behaupten, daß sie in vielen Fällen Erfolg damit haben. Aber man weiß es natürlich nie; die Menschen sind so scheinheilig.«
    Und sie begann sich weiter über das Thema auszulassen. Bei Julia drehte sich alles um ihre eigene Sinnlichkeit. Sobald diese irgendwie im Spiel war, konnte sie außerordentlich scharfsinnig sein. Im Gegensatz zu Winston war ihr ein Licht über den eigentlichen Zweck der strengen Parteidoktrin in sexuellen Dingen aufgegangen. Sie wurde aufrechterhalten, nicht nur weil die Sexualität sich eine Welt für sich zu schaffen verstand, die außerhalb der Kontrolle der Partei lag, so daß sie nach Möglichkeit unterdrückt werden mußte, sondern vor allen Dingen, weil die sexuelle Enthaltsamkeit zur Hysterie führte und damit ein erstrebenswertes Ziel erreicht wurde, denn diese Hysterie konnte in Kriegsbegeisterung und Führerverehrung umgewandelt werden. Julia drückte das folgendermaßen aus:
    »Beim Liebesspiel verbraucht man Energie, und hinterher fühlt man sich glücklich und pfeift auf alles andere. Das können sie nicht ertragen. Sie wollen, daß man ständig zum Platzen mit Energie geladen ist.
    Dies ganze Auf- und Abmarschieren, Hurra-Brüllen und Fahnenschwenken ist weiter nichts als sauer gewordene Sinnlichkeit. Wenn man innerlich glücklich ist, kann man weder über

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