1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
dichten Büscheln wie Frauenhaar. Sicherlich mußte irgendwo in der Nähe, aber außer Sichtweite, ein Bach mit grünen Gumpen sein, in dem sich Weißfische tummelten.
»Gibt es hier nicht einen Bach in der Nähe?« flüsterte er.
»Stimmt, ein Bach ist da. Er fließt am Rande des nächsten Feldes. Es sind Fische darin, große, fette Kerle.
Man kann sie in den Gumpen unter den Weiden schwimmen sehen, wie sie mit ihren Flossen rudern.«
»Es ist beinahe wie das Goldene Land«, murmelte er.
»Welches Goldene Land?«
»Kein bestimmtes. Eine Landschaft, die ich manchmal im Traum gesehen habe.«
»Schau!« flüsterte Julia.
Eine Drossel hatte sich keine fünf Meter entfernt von ihnen auf einem Ast fast in ihrer Augenhöhe niedergelassen. Vielleicht hatte sie die beiden nicht bemerkt. Sie war in der Sonne, während die beiden im Schatten standen. Sie spreizte die Flügel, legte sie sorgfältig wieder zurecht, duckte einen Augenblick den Kopf, als machte sie der Sonne eine Verbeugung, und begann dann ihren Jubelgesang hinauszuschmettern.
In der Nachmittagsstille war die Kraft der Stimme geradezu verblüffend. Winston und Julia standen bezaubert Arm in Arm. Der Gesang ging weiter, Minute auf Minute, mit erstaunlichen Variationen, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen, fast als wollte der Vogel ihnen seine Virtuosität beweisen. Manchmal verstummte er für ein paar Sekunden, spreizte von neuem sein Gefieder und faltete es wieder zusammen; dann blähte er seine gesprenkelte Brust und stimmte von neuem sein Lied an. Winston beobachtete ihn mit heimlicher Bewunderung. Wem zuliebe, für welchen Zweck, sang dieser Vogel? Kein Weibchen, kein Nebenbuhler beobachtete ihn. Was veranlaßte ihn, sich am Rande des einsamen Wäldchens niederzulassen und seine Musik ins Nichts zu schmettern? Er fragte sich, ob vielleicht doch irgendwo in der Nähe ein Mikrophon verborgen war. Er und Julia hatten nur im Flüsterton gesprochen, ihre Worte würde es nicht auffangen, sondern nur den Gesang der Drossel. Vielleicht lauschte am anderen Ende des Apparates ein kleiner, käferartiger Mann aufmerksam – lauschte gerade auf das hier. Aber langsam vertrieb die Flut der Musik alle Grübeleien aus seinem Denken. Es war, als ergösse sie sich wie eine flüssige Masse über ihn und verschmölze mit dem durch das Blattwerk sickernden Sonnenlicht. Er hörte zu denken auf und überließ sich ganz seinen Empfindungen. Der Mädchenleib in seinem Arm fühlte sich weich und warm an. Er zog sie an sich, so daß sie Brust an Brust lagen; ihr Körper schien mit dem seinen zu verschmelzen. Wo immer seine Hand hintastete, war alles weich und nachgiebig wie Wasser. Ihre Lippen fanden sich; es war ganz anders als die harten, festen Küsse, die sie vorher getauscht hatten. Als ihre Gesichter wieder voneinander abließen, seufzten beide tief. Der Vogel erschrak und flog mit einem Flügelschwirren davon.
Winston legte die Lippen an ihr Ohr. »Komm!« flüsterte er.
»Nicht hier«, flüsterte sie zurück. »Gehen wir wieder in die Lichtung zurück. Dort ist es sicherer.«
Rasch bahnten sie sich, während die Zweige hin und wieder knackten, ihren Weg zu der Lichtung zurück. Sobald sie in dem von Tannenbäumchen umgebenen Rund angelangt waren, drehte sie sich um und sah ihn an. Beide atmeten heftig, aber das Lächeln um ihre Mundwinkel war wieder erschienen. Sie stand da und sah ihn einen Augenblick an, dann tastete sie nach dem Reißverschluß des Trainingsanzuges. Und wahrhaftig – es war fast wie ein Traum! Fast ebenso schnell wie in seiner Phantasie hatte sie sich die Kleider vom Leibe gerissen und schleuderte sie beiseite, mit der gleichen herrlichen Bewegung, als ob damit eine ganze Zivilisation weggewischt zu werden schien. Ihr Körper schimmerte weiß in der Sonne. Doch einen Augenblick lang blickte er nicht auf ihren Körper; seine Augen waren von dem sommersprossigen Gesicht mit seinem leisen, kecken Lächeln gefangen. Er kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hände in seine.
»Hast du das schon früher getan?«
»Natürlich. Schon hundertmal – oder jedenfalls sehr oft.«
»Mit Parteiangehörigen?«
»Ja, immer mit Parteiangehörigen.«
»Mit Leuten aus der Inneren Partei?«
»Nein, nicht mit diesen Schweinen. Trotzdem gibt es natürlich viele, die das möchten, wenn sich ihnen nur halbwegs eine Möglichkeit bieten würde. Sie sind nicht so heilig, wie sie tun.«
Sein Herz jubelte. Sie hatte es schon so oft getan; er wünschte sich, es
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