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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Luft für rein hielt, würde sie sich bei seinem Kommen die Nase schnäuzen; andernfalls sollte er, als kenne er sie nicht, an ihr vorübergehen. Doch mit ein wenig Glück würde es im Gedränge gefahrlos sein, eine Viertelstunde miteinander zu sprechen und eine neue Verabredung zu treffen.
    »Und jetzt muß ich gehen«, sagte sie, sobald er die ihm gegebenen Weisungen memoriert hatte. »Ich muß um 19.30 Uhr zurück sein. Ich muß zwei Stunden für die Jugendliga gegen Sexualität opfern – Handzettel verteilen oder so was Ähnliches. Ist es nicht eine Schande? Bürste mich mal ab, ja, sei so gut! Hab' ich auch keine Zweige im Haar? Bist du auch sicher? Dann leb wohl, Liebling, auf Wiedersehen!«
    Sie warf sich in seine Arme, küßte ihn leidenschaftlich und bahnte sich einen Augenblick später ihren Weg durch das Tannengestrüpp, worauf sie ganz lautlos im Wald verschwand. Noch immer hatte er weder ihren Namen noch ihre Adresse in Erfahrung gebracht. Aber das machte nichts, denn es war sowieso undenkbar, daß sie sich jemals unter einem Dach begegnen oder eine schriftliche Mitteilung miteinander austauschen würden.
    Es ergab sich jedoch, daß sie nie zu der Waldlichtung zurückkehrten. Im Laufe des Mais fanden sie nur noch ein einziges Mal Gelegenheit zu einem intimen Beisammensein. Das war in einem anderen Versteck, das Julia kannte, dem Glockenturm einer Kirchenruine, die in einer fast völlig verlassenen Gegend lag, wo vor dreißig Jahren eine Atombombe niedergegangen war. Aber der Weg dorthin war sehr gefährlich. Die übrige Zeit konnten sie sich nur auf der Straße treffen, jeden Abend an einer anderen Stelle und nie für länger als für eine halbe Stunde. Auf der Straße war es gewöhnlich möglich, miteinander zu sprechen, wenn man ein bestimmtes Verfahren einhielt. Während sie durch das Gedränge gingen, niemals dicht nebeneinander und ohne jemals einander anzusehen, führten sie eine merkwürdige, bruchstückweise Unterhaltung, die wie die Strahlen eines Leuchtturms aufzuckte und erlosch, beim Auftauchen einer Parteiuniform oder eines Televisors jäh ins Stocken geriet, dann Minuten später mitten in einem Satz wiederaufgenommen und ebenso plötzlich unterbrochen wurde, wenn sie an der vereinbarten Stelle auseinander gingen, um am nächsten Tag fast ohne Überleitung weitergeführt zu werden. Julia schien ganz an diese Art Unterhaltung gewöhnt zu sein, die sie das »Abzahlungssystem« nannte. Sie war auch erstaunlich geschickt darin, ganz ohne Lippenbewegung zu sprechen. Nur ein einziges Mal während eines Monats abendlicher Zusammenkünfte sollte es ihnen gelingen, einen Kuß zu tauschen. Sie gingen gerade wortlos durch eine Nebenstraße (Julia sprach niemals in Nebenstraßen), als ein betäubender Krach ertönte, die Erde barst und der Himmel sich verfinsterte; Winston fand sich zerschunden und erschrocken auf dem Boden liegen. Eine Raketenbombe mußte in nächster Nähe niedergegangen sein. Plötzlich sah er nur wenige Zentimeter entfernt das Gesicht Julias, totenblaß, weiß wie Kalk. Sogar ihre Lippen waren vollkommen weiß. Sie war tot! Erst als er sie an sich preßte, entdeckte er, daß er ein lebenswarmes Gesicht küßte und nur eine puderartige, bröselige Staubschicht seinen Lippen im Weg war. Ihre Gesichter waren dicht mit Mörtel überzogen.
    An manchen Abenden kamen sie an ihren Treffpunkt und mußten ohne ein Zeichen hintereinander hergehen, weil gerade eine Streife um die Ecke gebogen kam oder ein Helikopter über ihnen schwebte. Aber auch wenn es weniger gefährlich gewesen wäre, bestanden noch genug Schwierigkeiten, die Zeit für ein Rendezvous zu erübrigen. Winstons Arbeitswoche hatte sechzig Stunden, und Julias war sogar noch länger; ihre freien Tage schwankten je nach der Dringlichkeit der Arbeit und deckten sich selten. Julia jedenfalls hatte kaum einen Abend ganz für sich. Sie verwandte erstaunlich viel Zeit auf den Besuch von Vorträgen und die Teilnahme von Demonstrationen, teilte Flugschriften für die Jugendliga gegen Sexualität   aus, nähte Fahnen für die Haß-Woche , sammelte für den Sparfeldzug und dergleichen mehr. So etwas machte sich bezahlt, meinte sie; es war die beste Tarnung. Wenn man die kleinen Gesetze einhielt, konnte man gegen die großen verstoßen. Sie veranlaßte Winston sogar, noch einen seiner freien Abende zu opfern, indem er sich als Helfer bei der Munitionsstückarbeit verpflichtete, die von den eifrigen Parteimitgliedern freiwillig verrichtet

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