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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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heißt, man kann alles vergessen,
    Aber vom Schmerz meines Falles,
    Von dem bleib' ich ewig besessen!«
    Sie schien das ganze törichte Lied auswendig zu können. Ihre Stimme schwebte sehr melodisch mit dem lauen Sommerlüftchen daher, von einer Art glücklicher Melancholie erfüllt. Man hatte das Gefühl, es hätte der Frau nichts ausgemacht, wenn der Juniabend nie ein Ende gehabt und der Wäschevorrat unerschöpflich gewesen wäre, und wenn sie tausend Jahre so weitermachen konnte: Kinderwindeln aufhängen und kitschige Lieder dabei singen. Dabei fiel ihm ein, daß er merkwürdigerweise nie ein Parteimitglied allein und spontan hatte singen hören. Es hätte sogar ein wenig unorthodox, wie eine gefährliche Schrullenhaftigkeit gewirkt, so als ob man Selbstgespräche führte. Vielleicht mußten die Menschen erst nahe am Verhungern sein, um für sich allein singen zu können.
    »Jetzt darfst du dich umdrehen«, sagte Julia.
    Er drehte sich um und hätte sie eine Sekunde lang fast nicht erkannt. Eigentlich hatte er erwartet, sie nackt vor sich zu sehen. Aber sie war nicht nackt. Ihre Verwandlung war viel erstaunlicher. Sie hatte sich geschminkt.
    Sie mußte in einen Laden in den Prolesvierteln geschlüpft sein und eine ganze Ausrüstung von Toilettenartikeln gekauft haben.
    Ihre Lippen waren tiefrot, ihre Wangen bedeckte ein Hauch von Rouge, ihre Nase war gepudert; sogar unter die Augen war irgend etwas getupft, das sie glänzender erscheinen ließ. Es war nicht sehr geschickt gemacht, aber Winstons Ansprüche in diesen Dingen waren keineswegs hochgeschraubt. Er hatte nie zuvor ein weibliches Parteimitglied geschminkt gesehen oder es sich auch nur geschminkt vorstellen können.
    Julias Erscheinung hatte sich in verblüffender Weise verschönt. Mit nur wenigen Farbstrichen an den richtigen Stellen war sie nicht nur sehr viel hübscher, sondern vor allem viel weiblicher geworden. Ihr kurzes Haar und der knabenhafte Trainingsanzug erhöhten nur die Wirkung. Als er sie in seine Arme schloß, stieg ihm eine Welle synthetischen Veilchendufts in die Nase. Er erinnerte sich an das Halbdunkel einer Wohnküche im Erdgeschoß und an die schwarze Mundhöhle einer Frau. Genau das gleiche Parfüm hatte sie benutzt; aber im Augenblick schien das nichts auszumachen.
    »Parfüm auch!« rief er aus.
    »Ja, Liebster, auch Parfüm. Und weißt du, was ich als nächstes mache? Ich versuche, irgendwo einen richtigen Frauenrock aufzutreiben, und ziehe ihn mir anstatt dieser scheußlichen Hosen an. Ich werde seidene Strümpfe tragen und Schuhe mit hohen Absätzen! In diesem Zimmer will ich eine Frau sein, keine Parteigenossin.«
    Sie streiften ihre Kleider ab und stiegen in das riesige Mahagonibett. Er zog sich zum erstenmal in ihrer Gegenwart ganz aus. Bisher hatte er sich zu sehr seines bleichen, mageren Körpers mit den an den Waden hervortretenden Krampfadern und dem entfärbten Fleck über seinem Fußknöchel geschämt. Das Bett hatte kein Laken, aber die Wolldecke, auf der sie lagen, war dünn und weich, und die Größe und Federung des Bettes erstaunte sie beide. »Es wimmelt sicher von Wanzen, aber wen kümmert das schon?« sagte Julia. Man sah heutzutage nirgendwo Doppelbetten, außer in den Wohnungen der Proles. Winston hatte in seiner Knabenzeit gelegentlich in einem geschlafen; Julia hatte noch nie zuvor in einem gelegen, soweit sie sich erinnern konnte.
    Sie sanken gleich für eine Weile in Schlummer. Als Winston aufwachte, waren die Zeiger der Uhr bis fast auf neun vorgerückt. Er rührte sich nicht, denn Julia schlief noch, ihren Kopf in die Biegung seines Armes gebettet. Der größte Teil der Schminke hatte sich auf sein Gesicht und das Kissen übertragen, aber ein zarter roter Fleck betonte noch immer die Schönheit ihrer Wange. Ein goldgelber Strahl der untergehenden Sonne glitt über das Bettende und fiel auf den Kocher, auf dem das Wasser lebhaft sprudelte. Drunten im Hof hatte die Frau zu singen aufgehört, aber gedämpfte Kinderrufe drangen von der Straße herein. Er fragte sich verschwommen, ob es wohl in der verpönten Vergangenheit ein normales Erlebnis gewesen war, als Mann und Frau so in der Kühle des Sommerabends unbekleidet im Bett zu liegen, der Liebe zu frönen, wenn man Lust dazu verspürte, zu sprechen, was einem gerade einfiel, nicht zum Aufstehen gezwungen zu sein, sondern einfach dazuliegen und den friedvollen Geräuschen von draußen zu lauschen. Konnte es einmal eine Zeit gegeben haben, wo das

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