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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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plötzlich empfand er eine tiefe Zärtlichkeit, wie er sie vorher nicht für sie gefühlt hatte. Er wünschte, sie wären ein altes, seit zehn Jahren verheiratetes Ehepaar.
    Er wünschte, er ginge mit ihr wie eben jetzt durch die Straßen, aber offen und ohne Angst, um sich dabei über alltägliche Dinge zu unterhalten und alles mögliche für den Haushalt einzukaufen. Vor allem aber wünschte er. sie hätten ein Fleckchen Erde, wo sie allein miteinander sein konnten, ohne die Verpflichtung zu fühlen, bei jedem Zusammensein gleich ins Bett gehen zu müssen. Nicht gerade in diesem Augenblick, aber irgendwann im Laute des folgenden Tages war ihm der Gedanke gekommen. Mr. Charringtons Zimmer zu mieten. Als er Julia diesen Vorschlag machte, hatte sie mit unerwarteter Bereitwilligkeit zugestimmt. Sie wußten beide, daß es ein Wahnsinn war. Es war, als täten sie beide absichtlich einen Schritt näher an ihr Grab heran. Während er wartend auf dem Bettrand saß, dachte er von neuem an die Kellergewölbe des Liebesministeriums. Es war merkwürdig, wie einem dies unausweichliche Schicksal immer wieder zum Bewußtsein kam. Da lag es nun auf der Lauer als sichere Vorbestimmung, ein Vorspiel des Todes, auf das man mit neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit rechnen konnte. Man konnte ihm nicht entrinnen, aber man konnte es vielleicht hinausschieben: und doch legte man es statt dessen immer wieder darauf an, durch eine bewußt gewollte Handlung den Aufschub zu verkürzen.
    In diesem Augenblick vernahm man einen raschen Schritt auf der Treppe. Julia kam ins Zimmer gestürzt.
    Sie trug eine Werkzeugtasche aus derbem braunen Segeltuch, mit der er sie manchmal im Ministerium hatte hin und her laufen sehen. Er sprang auf, um sie in seine Arme zu schließen, aber sie befreite sich ziemlich hastig, zum Teil wohl, weil sie noch immer die Werkzeugtasche hielt.
    »Nur eine Sekunde«, sagte sie. »Laß dir nur eben zeigen, was ich mitgebracht habe. Hast du was von diesem schauerlichen Victory-Kaffee mitgebracht? Das dachte ich mir. Du kannst ihn wegschmeißen, denn wir brauchen ihn nicht. Da, schau her.«
    Sie ließ sich auf die Knie nieder, klappte die Tasche auf und warf ein paar Schraubenschlüssel heraus, die obenauf lagen. Darunter kam eine Anzahl säuberlich in Papier gewickelter Päckchen zum Vorschein. Das erste Päckchen, das sie Winston reichte, fühlte sich merkwürdig und doch irgendwie bekannt an. Es war mit einer schweren, feinkörnigen Masse angefüllt, die bei der Berührung jedem Druck nachgab.
    »Doch nicht etwa Zucker?« fragte er.
    »Echter Zucker. Kein Sacharin, sondern Zucker. Und hier ist ein Laib Brot – richtiges Weißbrot, nicht unser elender Dreck – und ein Töpfchen Marmelade. Und da ist eine Dose Milch – aber jetzt paß auf! Darauf bin ich wirklich stolz. Ich mußte es in ein Stück Sackleinwand einwickeln, weil –«
    Aber sie brauchte ihm nicht zu sagen, warum sie es eingewickelt hatte. Der Duft erfüllte bereits das Zimmer, ein reicher, würziger Duft, der wie ein Hauch aus seiner Kindheit war, dem man aber auch heute noch begegnete, wenn er manchmal durch eine Gasse zog, ehe irgendeine Tür ins Schloß fiel, oder in einer verkehrsreichen Straße in der Luft hing, einem einen Augenblick in die Nase stieg und sich dann wieder verflüchtigte.
    »Kaffee«, murmelte er, »echter Kaffee.«
    »Es ist Kaffee für die Innere Partei. Ich habe ein ganzes Kilo davon mit«, sagte sie.
    »Wie bist du zu all diesen Dingen gekommen?«
    »Es sind alles Sachen für die Innere Partei. Es gibt nichts, was diese Schweine nicht haben; einfach nichts.
    Aber natürlich klauen die Kellner, die Dienstboten und die Angestellten, und . . . schau her, ich habe auch ein Päckchen Tee.«
    Winston hatte sich eben niedergehockt. Er riß eine Ecke des Päckchens auf.
    »Echter Tee! Keine Brombeerblätter!«
    »Es gab in letzter Zeit haufenweise Tee. Sie haben Indien erobert oder so etwas Ähnliches«, sagte sie beiläufig. »Aber hör zu, Liebster. Tu mir den Gefallen und dreh dich drei Minuten um. Geh und setz dich auf die andere Seite vom Bett. Tritt nicht zu nah ans Fenster. Und dreh dich nicht um, ehe ich dir's nicht sage.«
    Winston starrte versunken durch den Musselinvorhang hindurch. Unten im Hof ging die Frau mit den geröteten Armen noch immer zwischen dem Waschzuber und der Wäscheleine hin und her. Sie nahm gerade wieder zwei Klammern aus dem Mund und sang mit gefühlvoller Stimme:
    »Man sagt, die Zeit heile alles,
    Es

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