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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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in einen Abgrund zu stoßen.
    »In Wirklichkeit hätte es nichts geändert«, sagte er.
    »Warum bedauerst du dann, es nicht getan zu haben?«
    »Nur weil mir das Handeln lieber geworden ist als das Herumsitzen mit Händen im Schoß. Doch bei dem Spiel, das wir spielen, können wir nicht gewinnen. Die eine Art von Fehlschlägen ist besser als die andere, das ist alles.«
    Er fühlte ein Zucken des Widerspruchs in ihren Schultern. Sie widersprach ihm immer, wenn er etwas Derartiges sagte. Sie wollte es nicht als ein Naturgesetz hinnehmen, daß der einzelne immer unterliegt.
    Einesteils war ihr bewußt, daß sie zum Untergang verurteilt war, daß früher oder später die Gedankenpolizei sie verhaften und töten würde, doch mit einem anderen Teil ihres Denkens hielt sie es irgendwie für möglich, eine geheime Welt aufzubauen, in der man leben konnte, wie es einem gefiel. Dazu brauchte man nur Glück, Schlauheit und Dreistigkeit. Sie begriff nicht, daß es so etwas wie Glück nicht gab, daß der einzige Sieg in der fernen Zukunft lag, lange nachdem man gestorben war, daß man von dem Augenblick an, in dem man der Partei den Kampf ansagte, besser daran tat, sich als Leiche zu betrachten.
    »Wir sind die Toten«, sagte er.
    »Wir sind doch noch nicht tot«, meinte Julia nüchtern.
    »Noch nicht körperlich. Aber in sechs Monaten, einem Jahr – möglicherweise fünf Jahren. Ich habe Angst vor dem Tod. Du bist noch jung, also fürchtest du ihn vermutlich noch mehr als ich. Begreiflicherweise werden wir ihn so lange wie möglich hinausschieben. Aber es ist nur ein sehr geringer Unterschied. Solange wir Menschen Menschen sind, bleiben sich Tod und Leben gleich.«
    »Ach, Unsinn! Mit wem möchtest du lieber ins Bett gehen, mit mir oder einem Skelett? Bist du nicht froh, daß du lebst? Fühlst du nicht gerne: Das bin ich, das ist meine Hand, das ist mein Bein, ich bin wirklich, bin greifbar, ich lebe! Liebst du das nicht?«
    Sie warf sich herum und preßte ihren Busen gegen ihn. Er konnte ihre reifen, festen Brüste durch ihren Trainingsanzug hindurch spüren. Ihr Körper schien etwas von seiner Jugendfrische und Lebenskraft an ihn abzugeben.
    »Doch, das liebe ich«, sagte er.
    »Dann hör auf, vom Sterben zu reden. Und jetzt paß auf, Liebster, wir müssen unser nächstes Wiedersehen vereinbaren. Wir können ebenso gut wieder zu der Stelle im Wald gehen. Wir haben lange genug pausiert. Aber diesmal mußt du auf einem anderen Weg hingehen. Ich habe mir alles ausgedacht. Du fährst mit dem Zug – aber schau her, ich werde es dir aufzeichnen.«
    Und in ihrer praktischen Art scharrte sie den Staub zu einem kleinen Quadrat zusammen und begann mit einem Zweig aus einem der Taubennester eine Landkarte auf den Boden zu zeichnen.

Viertes Kapitel
    Winston blickte sich in dem schäbigen kleinen Zimmer über Mr. Charringtons Laden um. Neben dem Fenster war das riesige Bett mit zerrissenen Wolldecken und einem unbezogenen Kopfkissen aufgemacht.
    Die altmodische Uhr mit dem Zwölferzifferblatt tickte auf dem Kaminsims. In der Ecke, auf dem Klapptischchen, schimmerte der Glasbriefbeschwerer, den er bei seinem letzten Besuch gekauft hatte, sanft aus dem Halbdunkel hervor.
    Auf dem Kaminvorsatz standen ein zerbeulter Blechpetroleumkocher, ein Kessel und zwei Tassen, die Mr. Charrington zur Verfügung gestellt hatte. Winston zündete den Kocher an und setzte Wasser auf. Er hatte einen Briefumschlag voll Victory-Kaffee und ein paar Sacharintabletten mitgebracht. Die Zeiger zeigten auf zwanzig nach sieben: demnach war es also in Wirklichkeit 19.20 Uhr. Um 19.30 Uhr wollte sie kommen.
    Verrückt, verrückt, hämmerte sein Herz unaufhörlich: Es war eine bewußte, unverantwortliche, selbstmörderische Verrücktheit. Von allen Verbrechen, die ein Parteimitglied begehen konnte, war keines so unmöglich geheimzuhalten wie dieses. Genaugenommen war ihm der Gedanke zum erstenmal wie eine Vision durch den Sinn gegangen, als er den Briefbeschwerer sich in der Platte des Klapptisches spiegeln sah.
    Wie vorausgesehen, hatte Mr. Charrington keine Schwierigkeiten beim Vermieten des Zimmers gemacht.
    Er war offensichtlich erfreut über die paar Dollar, die ihm das einbringen würde. Auch nahm er keinen Anstoß daran, noch wurde er unangenehm vertraulich, als sich herausstellte, daß Winston das Zimmer für ein Liebesabenteuer benötigte. Statt dessen blickte er unbestimmt vor sich hin und sprach in allgemeinen Wendungen mit einer so zurückhaltenden

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