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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Miene, daß man das Gefühl hatte, er sei überhaupt so gut wie unsichtbar geworden. Unter sich zu sein, meinte er, sei etwas sehr Schätzenswertes. Jeder Mensch sollte ein Plätzchen haben, wo er gelegentlich zu zweit allein sein könne. Und wenn der Betreffende ein solches Plätzchen gefunden habe, so sei es nur eine ganz gewöhnliche Anstandspflicht jedes anderen, sein Wissen darüber für sich zu behalten. Er fügte sogar hinzu – und dabei schien er sich vollends in nichts aufzulösen – , daß das Haus zwei Eingänge habe, von denen einer durch den Hinterhof hinaus auf ein Seitengäßchen führe.
    Draußen vor dem Fenster sang jemand. Winston lugte unter dem Schutz des Musselinvorhangs hinaus.
    Die Junisonne stand noch hoch am Himmel, und drunten auf dem besonnten Hof stapfte ein Monstrum von Frau, wuchtig wie eine romanische Säule, mit stämmigen roten Unterarmen und einer um ihre Taille gebundenen Sackleinwandschürze, zwischen einem Waschfaß und einer Wäscheleine hin und her, auf der sie eine Reihe viereckiger weißer Dinger aufhängte, die Winston als Kinderwindeln erkannte. So oft ihr Mund nicht durch Wäscheklammern verschlossen war, sang sie mit mächtiger, tiefer Altstimme:
    »Es war nur ein tiefer Traum,
    Ging wie ein Apriltag vorbei-ei,
    Aber sein Blick war leerer Schaum,
    Brach mir das Herz entzwei-ei!«
    Das Lied wurde während der letzten Wochen von ganz London geträllert. Es war einer von zahlreichen ähnlichen Schlagern, die für die Proles von einer Unterabteilung der Fachgruppe Musik herausgegeben wurden. Der Wortlaut dieser Lieder wurde ohne jedes menschliche Zutun von einem sogenannten »Versificator« zusammengestellt. Aber die Frau sang so melodiös, daß aus dem fürchterlichen Blödsinn beinahe ein hübsches Liedchen wurde. Er konnte den Gesang der Frau und das Scharren ihrer Schuhe auf den Steinplatten hören, die Rufe der Kinder auf der Straße und irgendwo in weiter Ferne das leise Dröhnen des Verkehrs; und doch schien ihm das Zimmer merkwürdig still, weil es keinen Televisor enthielt.
    Verrückt, verrückt, dachte er von neuem. Es war unvorstellbar, daß sie diesen Treffpunkt länger als ein paar Wochen benutzen konnten, ohne ertappt zu werden. Aber die Versuchung, einen Unterschlupf zu haben, der wirklich ihnen gehörte, unter einem festen Dach und leicht erreichbar, war für sie beide zu groß gewesen. Nach ihrem letzten Treffen im Glockenturm ließ sich eine Zeitlang kein Stelldichein ermöglichen.
    Die Zahl der Arbeitsstunden war im Hinblick auf die kommende Haß-Woche radikal heraufgesetzt worden.
    Sie fand erst in mehr als einem Monat statt, aber die damit verbundenen umfangreichen und vielfältigen Vorbereitungen bürdeten jedermann Sonderarbeit auf. Endlich gelang es den beiden, sich am selben Tag einen freien Nachmittag zu verschaffen. Sie waren übereingekommen, wieder zu der Waldlichtung zu gehen. Am Abend vorher trafen sie sich kurz auf der Straße. Wie gewöhnlich sah Winston Julia kaum an, als sie in der Menge aufeinander zusteuerten, aber nach dem kurzen Blick, den er ihr zuwarf, kam es ihm so vor, als sei sie bleicher als gewöhnlich.
    »Es ist nichts damit«, murmelte sie, sobald sie es für ungefährlich hielt, zu sprechen. »Mit morgen, meine ich.«
    »Wieso?«
    »Morgen Nachmittag. Ich kann nicht kommen.«
    »Warum nicht?«
    »Das übliche. Es ist diesmal zu früh losgegangen.«
    Einen Augenblick lang packte ihn heftiger Ärger. Während der Monate ihrer Bekanntschaft hatte sich seine Einstellung zu ihr geändert. Anfangs hatte nur wenig echte Sinnlichkeit mitgespielt. Ihr erstes intimes Beisammensein war für ihn lediglich eine Willensanstrengung gewesen. Aber nach dem zweiten Mal war es anders geworden. Der Duft ihres Haares, der Geschmack ihres Mundes, die Berührung ihrer Haut schienen ihn ganz und gar, ja selbst die ihn umgebende Atmosphäre durchdrungen zu haben. Sie war für ihn ein körperliches Bedürfnis geworden, etwas, das er nicht nur brauchte, sondern worauf er ein Recht zu haben meinte. Als sie nun sagte, sie könne nicht kommen, hatte er das Gefühl, von ihr betrogen zu werden. Aber gerade in diesem Augenblick wurden sie im Gedränge aneinander gepreßt, und ihre Hände fanden sich wie zufällig. Sie versetzte seinen Fingerspitzen einen raschen Druck, der nicht um Begehren, sondern um Liebe bat. Ihm wurde bewußt, daß eine solche Enttäuschung beim Zusammenleben mit einer Frau eine normale, immer wiederkehrende Erscheinung sein mußte. Und

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