1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
selbstverständlich schien? Julia erwachte, rieb sich die Augen und richtete sich auf den Ellenbogen auf, um nach dem Petroleumkocher zu sehen.
»Das halbe Wasser ist verkocht«, sagte sie. »Ich stehe gleich auf und mache Kaffee. Wir haben noch eine Stunde Zeit. Wann wird in eurem Block das Licht ausgeschaltet?«
»Um dreiundzwanzig Uhr dreißig.«
»Im Heim um dreiundzwanzig Uhr. Aber man muß schon früher zu Hause sein, weil . . . Huch! Mach, daß du wegkommst, du Biest!«
Sie machte plötzlich eine Drehung im Bett, hob einen Schuh vom Boden auf und warf ihn wuchtig mit einer jungenhaften Armbewegung in die Ecke, mit der gleichen Bewegung, mit der er sie an jenem Vormittag während der Zwei-Minuten-Haß-Sendung das Wörterbuch nach Goldstein hatte schleudern sehen.
»Was ist los?« fragte er erstaunt.
»Eine Ratte. Ich sah, wie sie ihre ekelhafte Schnauze hinter der Holzleiste hervorstreckte. Dort drüben ist ein Loch. Jedenfalls habe ich ihr einen tüchtigen Schrecken eingejagt.«
»Ratten!« murmelte Winston. »In diesem Zimmer!«
»Sie treiben sich überall herum«, sagte Julia gleichgültig, während sie sich wieder hinlegte. »Im Heim haben wir sogar welche in der Küche. In manchen Teilen Londons wimmelt es von ihnen. Wußtest du, daß sie an kleine Kinder herangehen? Doch, bestimmt, das tun sie. In manchen von diesen Straßen wagen die Frauen ihre Kinder nicht zwei Minuten allein zu lassen. Die großen braunen machen das. Und das Scheußlichste ist, daß die Biester . . .«
»Hör auf!« sagte Winston, die Augen fest geschlossen.
»Liebster! Du bist ja ganz blaß geworden. Was fehlt dir? Wird dir von ihnen schlecht?«
»Von allen Scheußlichkeiten der Welt sind Ratten . . .«
Sie preßte sich eng an ihn und umschlang ihn mit ihren Gliedern, wie um ihn mit der Wärme ihres Körpers zu beruhigen. Er öffnete die Augen nicht gleich wieder. Ein paar Augenblicke lang hatte er das Gefühl gehabt, von neuem in den Angsttraum versetzt zu werden, der ihn sein ganzes Leben hindurch von Zeit zu Zeit verfolgt hatte. Es war immer so ziemlich dasselbe. Er stand vor einer Mauer aus Dunkelheit, jenseits der etwas Unerträgliches lauerte, etwas, das zu schrecklich war, um seinen Anblick noch erträglich sein zu lassen. Im Traum war dabei sein tiefstes Gefühl immer, daß er sich etwas vormachte, daß er in Wirklichkeit genau wußte, was hinter der dunklen Mauer war. Mit einer unerhörten Anstrengung, als reiße er sich ein Stück aus dem eigenen Gehirn, hätte er das Verborgene sogar ans Licht zerren können. Er wachte immer auf, ohne zu erfahren, was es eigentlich war: aber irgendwie hing es damit zusammen, wovon Julia gesprochen hatte, als er sie unterbrach.
»Verzeih«, sagte er, »es ist nichts. Ich kann nun einmal Ratten nicht ausstehen, das ist alles.«
»Mach dir keine Sorgen, Liebster, wir werden die elenden Biester hier nicht hereinlassen. Ich werde das Loch mit etwas Sackleinen zustopfen, bevor wir gehen. Und wenn wir das nächste Mal herkommen, bring ich Gips mit und schmiere es ordentlich zu.«
Schon war der dunkle Augenblick der Panik halb vergessen. Etwas beschämt über sich selbst setzte er sich auf, gegen das Kopfteil des Bettes gestützt. Julia stand auf, zog ihren Trainingsanzug an und machte den Kaffee. Der aus dem Topf aufsteigende Duft war so stark und betäubend, daß sie die Fenster schlössen, damit niemand draußen es merken und vielleicht neugierig werden konnte. Doch fast noch besser als der Geschmack des Kaffees war die seidige Weiche, die ihm der Zucker verlieh, etwas, das Winston nach Jahren des Sacharins nahezu vergessen hatte. Eine Hand in der Tasche, in der anderen ein Marmeladebrot, ging Julia im Zimmer umher, betrachtete gleichgültig das Büchergestell, zeigte ihm, wie man den Klapptisch am besten reparieren könnte, ließ sich in den abgenutzten Lehnstuhl fallen, um zu sehen, ob er bequem war, und untersuchte mit einem nachsichtigen Lächeln die komische zwölfziffrige Uhr. Sie brachte den gläsernen Briefbeschwerer herüber ans Bett, um ihn bei besserem Licht betrachten zu können. Er nahm ihn ihr aus der Hand, wie immer fasziniert von der gedämpften, regenwasserartigen Beschaffenheit des Glases.
»Wozu ist das deiner Ansicht nach?« fragte Julia.
»Ich glaube, es hat kein ›Wozu‹ – ich meine, ich glaube nicht, daß es jemals einem Zweck gedient hat.
Das mag ich so gerne daran. Es ist ein Stückchen Geschichte, das sie zu verfälschen vergessen haben. Es
Weitere Kostenlose Bücher