1986 Das Gift (SM)
Besuch gekriegt.« »Vielleicht«, meinte Leo. »Kann aber auch sein, daß die beiden nur verletzt sind und die anderen sie mitgenommen haben.«
Alle drei traten wieder vor den Monitor. Es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Leo drückte auf die Taste des Sprechfunkgerätes und schaltete auf alle Lautsprecher:
»Achtung, Achtung! Wir bringen eine Durchsage!«
Die Antwort kam sofort:
»Wir hören.«
»Sie haben sich nicht an die Vereinbarung gehalten. Wir wurden von Tauchern angegriffen, haben sie aber abgewehrt. Zwei Ihrer Männer sind verletzt oder sogar tot. Beim nächsten Verstoß gegen die Abmachungen wird eins der Dioxinfässer gesprengt. Ich will jetzt den Bürgermeister sprechen. Ende.«
Diesmal dauerte es eine Weile, bis die Antwort kam:
»Ja, hier spricht der Bürgermeister. Wir werden nichts weiter unternehmen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Ende.«
»Das will ich hoffen! Die Opfer gehen auf Ihr Konto. Sorgen Sie dafür, daß es nicht mehr werden! Die Lösegeldzahlung erfolgt wie vereinbart. Ende.«
»Okay. Ende.«
Leo schaltete das Gerät aus.
»Wir müssen überprüfen«, sagte er dann, »ob sie uns nicht doch ein paar Haftminen ans Schiff gehängt haben.«
Felix und Richard machten sich tauchfertig, schnallten zum Schluß die Sauerstoffgeräte um und stiegen, der eine an Backbord, der andere an Steuerbord, ins Wasser.
Leo setzte sich auf den Drehstuhl, hielt Land und Meer unter Kontrolle und warf auch immer wieder einen Blick auf den Monitor, auf dem er seine beiden Partner entdeckt hatte, die den Kielboden der FLECHA abtasteten.
Nach zehn Minuten standen sie wieder an Deck. Sie hatten nichts gefunden.
»Vorhin, als es losging, hast du ’ne Sprengladung ausgeschlossen«, sagte Felix. »Warum hast du uns dann runtergeschickt? Warst du deiner Sache nicht sicher?«
»Natürlich nicht. Aber was hätte ich in der Situation sonst sagen sollen? Etwa, daß wir in drei Minuten in die Luft fliegen könnten? Dann wäre bei euch Panik ausgebrochen, und die Taucher hätten es womöglich geschafft, an Bord zu kommen.«
»Das hätte sowieso verdammt leicht passieren können! Ich jedenfalls hielt die Tiere für echt, also für ganz legale Vertreter dieser Gegend.«
»Ich auch«, sagte Richard, und dann fragte er Leo: »Wie kamst du eigentlich darauf, daß es Menschen waren?«
»Ich hab’ viel mit Farben gearbeitet, auch schon während des Studiums, und da ging es einmal um die Analyse der Farbwolke, die diese Tiere ausstoßen. Als ich im Monitor sah, daß der sein Zeug aus dem Tentakel verspritzte, war mir alles klar. Da sitzt die entsprechende Drüse nämlich nicht; die sitzt im Darm.«
Richard lachte. »Daß denen so ein Fehler unterlaufen konnte!«
»Es war vermutlich gar kein Fehler«, antwortete Leo, »sondern hängt wohl mit ihren Tarnanzügen zusammen. Die Männer müssen den Farbausstoß ja irgendwie bewerkstelligen, und darum bringen sie die Spraybeutel da unter, wo sie ihre Hände haben, also in den Tentakeln, und rechnen nicht damit, daß einer das merkt. Wer kennt sich denn schon aus in der Anatomie von Kraken! War bei mir doch auch nur ein Zufall. Der erste Zweifel kam mir allerdings schon vor dem Ausstoß. Kalmare, vor allem Burschen von dieser Größe, sind Tiefseebewohner. Fünfhundert, tausend Meter und mehr. Sie kommen so gut wie nie nach oben.«
»Aber wenn sie nun echt gewesen wären?« fragte Richard. »Was dann? Ich meine, hätten wir sie mehr zu fürchten gehabt als einen Angriff durch Tauchschwimmer?«
»Das weiß ich nicht. Es gibt viele Gruselgeschichten über Kalmare. Daß sie zum Beispiel mit ihren Riesenarmen die Leute von den Schiffen runterholen oder ein ganzes Boot zerquetschen. Auch was ihre Größe betrifft, gibt es die abenteuerlichsten Berichte. In Melvilles MOBY DICK zum Beispiel ist es ein gewaltiges Exemplar, zweihundert Meter im Durchmesser. Das ist natürlich Seemannsgarn, aber über Tiere von bis zu zwanzig Metern gibt es Aussagen, die glaubwürdig sind. Ebenso über ihre Saugnäpfe, groß wie Suppenteller, weil man nämlich die Abdrücke davon auf den Körpern von Pottwalen gefunden hat. Als sicher gilt auch, daß die Kraken hochintelligente Wesen sind. Ihre Augen können Fußballgröße erreichen, und nun stellt euch vor, so ein Augenpaar glotzt euch an! Aber Schluß damit! Wir müssen uns auf die Geldübergabe konzentrieren.« Er sah auf die Uhr. »Es ist noch viel zu tun. Wir bleiben jetzt zu dritt auf der Brücke.«
16.
20.35 Uhr an Bord der FLECHA
Leo und Felix
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