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1986 Das Gift (SM)

1986 Das Gift (SM)

Titel: 1986 Das Gift (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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schwenkte weiter herum, hielt mit den nackten Füßen sein kleines Karussell in Gang. Segment für Segment suchte er Ufer und Wasserfläche ab, und schließlich geschah es doch, daß seine Gedanken abschweiften. Sie wandten sich der Kindheit zu, den Eltern und den Geschwistern.
    Die Familie stammte aus Emden in Ostfriesland. Der Vater war Hafenarbeiter gewesen. Eines Morgens kam er von der Nachtschicht nicht zurück; statt seiner betrat ein Kollege die Dreizimmerwohnung und verkündete in seiner kargen norddeutschen Art: »Minsch, Elsa, dat hett em umhaut!« Und dies, daß es Niklas Wobeser umgehauen hatte, stellte sich dann später, in dem Unfallbericht, so dar: Beim Festmachen eines Frachters war eine Stahltrosse gerissen. Sie schleuderte durch die Luft und schnitt dem am Kai stehenden Niklas Wobeser unterhalb der Knie die Beine ab.
    Er, Richard, war damals sechzehn Jahre alt gewesen, und er hatte sich geschworen, dem erst vierzigjährigen Vater – koste es, was es wolle – das Dasein im Rollstuhl zu erleichtern. Da er noch in seiner Mechanikerlehre steckte und also nur ein spärliches Taschengeld hatte, landete er mit seiner Devise ›Koste es, was es wolle‹ bald beim Diebstahl. Immer wieder brachte er dem Vater etwas mit: ein neues Radiogerät, einen Fernseher, Wäsche und Oberhemden. Manchmal waren es auch Zigaretten und Alkohol, und einmal schleppte er einen Motor für den Rollstuhl an. Danach saß der Vater stundenlang im Keller neben der Werkbank und sah voller Freude zu, wie der Sohn schweißte und fräste, hämmerte und schraubte.
    Aber eines Tages hing er im Keller vom Fensterkreuz herab. Der Brief, der auf der Werkbank lag, beschrieb, was ihn gequält hatte. Richard kannte den Wortlaut auswendig, und nun, da er wohl zum hundertsten Mal an diesem Abend seine Augen um die Bucht schickte, sagte er ihn her: »Deine Mutter hat mir schon das Leben schwergemacht, als ich noch gesund war. Aber nun ist es doppelt schlimm, weil ich ihr ausgeliefert bin. Ich kann nicht mehr weggehen, wenn es mir zuviel wird. Und deine Brüder und Schwestern sind nichts als Maulhelden. Sie reden von Hilfe und sind weit weg. Sie laden mich dauernd ein, weil sie wissen, daß ich nicht kommen kann. Aber du! Du bist da. Immer. Und wenn ich siebzig bin und du ungefähr mein jetziges Alter hast, bist du immer noch da, klaust die schönsten Sachen für mich und versuchst, mir Mut zu machen. Ich hänge wie eine Klette an dir, und das darf nicht sein. Geh, mein Junge! Geh von hier weg und mach was aus deinem Leben …«
    Das wird jetzt endlich geschehen, dachte Richard. Sein Blick glitt an den großen Hotelkästen entlang. Wie Bienenwaben sahen die vielen erleuchteten Fenster aus. Die mit dem Licht, überlegte er, das sind die mit dem Honig. Das HOLIDAY INN kam ins Bild. Wenn der Turm ein bißchen schief stände, dachte er, könnte man meinen, es wäre der von Pisa. Jetzt der Blick übers Wasser, erst mit, dann ohne Glas. Nichts rührte sich auf der bleigrauen Fläche. Der Monitor war an der Reihe. Er wandte sich dem kleinen Gerät zu und entdeckte auf der milchig leuchtenden Scheibe eine winzige Bewegung. Es konnte ein Flimmern sein, eine Schliere, vielleicht auch wieder mal ein Fisch. Er war nicht besorgt, blickte aber voller Konzentration auf den Bildschirm. Und dann bemerkte er etwas, was ihn nun doch beunruhigte. Wenn es auch kein Fisch war, so schien es immerhin ein Lebewesen der Meeresfauna zu sein oder jedenfalls ein Teil davon, denn ganz deutlich sah er von links her einen langen rüsselartigen Arm ins Licht greifen.
    Er stand auf, huschte lautlos die kleine Treppe hinunter, sagte Leo und Felix Bescheid und wies sie an, sich still zu verhalten.
    Wenige Sekunden später waren alle drei an Deck und starrten auf den Monitor. Das exotische Wesen war mittlerweile ganz ins Bild gekommen. Sie erkannten voller Schrecken, daß es mehr als mannsgroß war und nicht nur einen, sondern acht Rüssel hatte, die sich, vom schildförmigen Kopf ausgehend, durch das Wasser schlängelten.
    »Ein Krake!« flüsterte Felix.
»Da! Da unten ist noch einer!« Richard hatte Leos Arm gepackt. Sie sahen das zweite Tier aus der Tiefe heraufkommen, sahen die nach oben gereckten Tentakel ins Licht streben, doch ehe auch dieses Exemplar ganz nah war, geschah etwas Unerwartetes. Das erste Tier hatte den Kielboden erreicht und glitt an ihm entlang. Einer der acht Arme kam nun deutlich ins Bild. An seinem Ende sahen sie einen etwa faustgroßen Saugnapf, aus dem

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