1986 Das Gift (SM)
Kontur gewann, hatte er den chemischen Stimmungsreglern abgeschworen, wohl wissend, daß sie mit den Depressionen zugleich die Initiative eindämmten, er sich jedoch von nun an keinerlei Einbuße an Scharfsichtigkeit und Energie erlauben durfte.
So kam er auch jetzt nicht auf die Idee, nach den Tabletten zu greifen. Im Gegenteil, wenn es weniger umständlich gewesen wäre, hätte er sich Kaffee gekocht, so willkommen war ihm das Wachsein. Mit dem ersten Erteilen von Instruktionen hatte er einen entscheidenden Schritt getan, und das war Grund genug, sich Gedanken zu machen über alles, was mit dem Acapulco-Plan zusammenhing. Dabei ging es nicht nur um die Zukunft. Der eigentliche Antrieb zu seinem Vorhaben stammte aus einer Zeit, die viel länger zurücklag als acht Wochen. Im Grunde war das Projekt schon fast zwei Jahre alt, wenn auch mit der Einschränkung, daß er damals noch nicht zu konkreten Beschlüssen gekommen war, sondern nur diffus den Drang nach Rache verspürt hatte.
Dabei hatte alles so aussichtsreich begonnen, auf der sauberen Seite, wo man Männern wie Wobeser und Brüggemann und Fernando allenfalls bei der morgendlichen Zeitungslektüre unter der Rubrik »Aus dem Gerichtssaal« zu begegnen pflegte. Er hatte sein vierzehnsemestriges Studium mit Erfolg durchlaufen, dann noch zwei Jahre für die Promotion drangegeben und war kurz darauf in das Hollmann-Werk eingetreten. Und mit der Anstellung in dem renommierten Unternehmen, das mit der synthetischen Herstellung von Duftstoffen sein Geld machte, schien er nicht nur beruflich, sondern auch privat auf verheißungsvolles Terrain geraten zu sein.
Im Hause Hollmann gab es außer den beiden Söhnen eine Tochter, die zwanzigjährige Margot. Sie begegnete dem neuen Chemiker ihres Vaters mit unbefangener Zuneigung, und es dauerte auch nicht länger als ein halbes Jahr, bis er es erreicht hatte, daß sie sich über alle bestehenden gesellschaftlichen Barrieren hinwegsetzte und ihn heiratete. Er, Leo Schweikert, war Akademiker der ersten Generation, noch dazu aus einer Familie, in der es immer nur Kleinbauern, Handwerker, Fabrikarbeiter, auf jeden Fall Lohnabhängige, gegeben hatte, und so war die Verbindung zwischen Margot und ihm in den Augen der Hollmanns natürlich eine Mesalliance. Zunächst jedoch schien sich die Familie mit dem unerwünschten Zuwachs zu arrangieren, aber im Laufe der Zeit erregte der Schwiegersohn und Schwager, sei es in Fragen des Geschmacks, sei es durch Umgangsformen und Ausdrucksweise, in immer stärkerem Maße ihren Unwillen. Ja, nach etwa drei Jahren begann selbst Margot an ihm herumzumäkeln. Neben den familiären Querelen, vielleicht sogar durch sie herausgefordert, vollzog sich dann aber etwas, das alle erstaunte: Er entwickelte sich zu einem überragenden Chemiker. Und dennoch, eines Tages war seine Karriere zu Ende, schlagartig, und der Anlaß machte die Zwietracht noch einmal deutlich, mehr noch, er entlarvte die Familie als eine Gruppe von Menschen, die ihm mit blankem Haß gegenüberstanden.
Jahrelang hatte die Firma Hollmann die bei der Gewinnung ihrer Produkte benutzten chlorierten Wasserstoffe nicht ordnungsgemäß entsorgt, obwohl die Verbrennung auf hoher See vorgeschrieben war. Um die durch eine solche Maßnahme entstehenden hohen Kosten einzusparen, hatte Julius Hollmann, der Firmen-Inhaber, seinem Schwiegersohn und ChefChemiker nahegelegt, einen weniger kostspieligen Weg der Entsorgung zu wählen, und sei es auch unter Umgehung gesetzlicher Vorschriften. Leo Schweikert war diesem Wunsch seines Schwiegervaters gefolgt. Zu aller Kritik, mit der man ihn ohnehin bedachte, wollte er sich nicht auch noch den Vorwurf einhandeln, er bringe das Unternehmen in die roten Zahlen.
In der Nähe des Firmengeländes gab es einen See, in dem gebadet wurde. Schweikert ignorierte die Gefährdung der Menschen, die sich sommertags dort tummelten, und ließ die giftige Substanz in diesen See leiten. Der Frevel blieb lange unentdeckt, doch dann traten in mehreren Familien aus der Umgebung Fälle von Leberschäden auf. Es handelte sich bei den Erkrankten vorwiegend um Kinder. Vier von ihnen wurden von ein und demselben Arzt behandelt, und da dieser das häufige Baden im See als ein übereinstimmendes Merkmal ihrer Vorgeschichten herausgefunden hatte, veranlaßte er eine Untersuchung des Wassers. Die Analyse ergab einen hohen Bestandteil an chlorierten Wasserstoffen. Im Verlauf weiterer Nachforschungen wurde die unter Geröll und Buschwerk
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