1986 Das Gift (SM)
leises Klicken gegen die Kassettenränder, das gedämpfte Scheppern der Jetons auf dem grünen Tuch und die fast lautlosen Schritte der Gäste auf den dicken Teppichen. Und erst die Gesichter, in denen sich so ungehindert lesen ließ von Angst und Erwartung, von Enttäuschung, Verzweiflung, Freude oder auch von grenzenloser Beherrschung! Wo sonst konnte man so unmittelbar und dennoch aus dem Verborgenen, gleichsam mit dem Genuß eines Voyeurs, teilnehmen an Erfolg und Mißerfolg der anderen? Ja, er war dem Spielsaal, diesem Ort der sanften Rigorosität, verfallen, und es konnte geschehen, daß er auf einem Spaziergang, einer Party oder sogar im Kino plötzlich nervös wurde, flatterig, fiebrig, und daß sein Herz schneller schlug, weil die kleine weiße Kugel ihn unwiderstehlich anzog. Dann stieg er ins Auto, fuhr los und machte sein Glück oder sein Pech.
Nachdem er die Erbschaft verspielt hatte, ging es also weiter, mit geliehenem Geld und wechselndem Geschick. Nicht selten war es Leo Schweikert, der Schulfreund, gewesen, den er um Hilfe gebeten hatte. Im Laufe der letzten fünf Jahre hatte er sich etwa vierzigtausend Mark von ihm geliehen, in Beträgen zwischen zwei- und zehntausend Mark. Vielleicht hatte die Tatsache, daß er es jedesmal auf Heller und Pfennig zurückgezahlt hatte, den Freund bewogen, ihn in das Acapulco-Team hineinzunehmen.
Als er von dem geplanten Coup erfuhr, befand er sich gerade in einer Glücksphase. Er besaß siebzigtausend Mark. Er setzte sofort mit dem Spielen aus, stellte sein Geld zur Verfügung. Und auch jetzt, da es ihm vom Ort, von der Zeit und von den Mitteln her ein leichtes gewesen wäre, für ein, zwei Tage nach Las Vegas zu fliegen, geriet er nicht in Versuchung. Selbst wenn die geplante Umwandlung des Acapulco -Centers in ein Casino schon erfolgt wäre, hätte ihn das nicht angefochten. Er wußte: Sein Geld würde einer großen Sache dienen, die keiner der Beteiligten durch Leichtfertigkeit gefährden durfte.
Er stand auf, ging hinaus auf den Balkon, sah über die etwa zwei Meter hohe Mauer hinweg in den Nachbargarten, entdeckte Luisa, das mexikanische Dienstmädchen. Die junge Mestizin stand auf einer kleinen Leiter und pflückte Avocados. Er hatte sich schon zweimal mit ihr unterhalten. Dank seiner häufigen Aufenthalte an der Costa del Sol, der Costa Brava und auf den Balearen sprach er das Spanische recht gut, konnte sich also mühelos mit den Mexikanern verständigen.
Er beobachtete, wie sie die birnengroßen grünen Früchte vorsichtig von den Zweigen drehte und in einen Korb legte, der über ihrem linken Arm hing. Er wußte, sie hatte nur eine alte Frau zu versorgen, die jeden Mittag siesta hielt. Er sah auf die Uhr. Es war jetzt Viertel nach eins. Warum nicht mal den Versuch machen? dachte er.
» Ola , Luisa!«
Sie drehte sich um, winkte ihm zu.
»Könntest du mir eine oder zwei davon herüberbringen?« »Ja, aber ein bißchen später.«
»Ist gut.«
Er ging ins Zimmer zurück, zog die Handschuhe aus, trat vor den Spiegel, fuhr sich mit der Rechten durchs Haar, dachte: Wie gut, daß Leo mir zur Chemie geraten hat und nicht zur Perücke! Ich glaub’, mit einem doppelten Schopf würde ich bei fünfunddreißig Grad im Schatten verrückt werden. Na, und für das, was jetzt kommt, wär’s auch nicht das Wahre. Vielleicht seufzt sie gerade »Mi amor!« und dann fällt ihr das Ding ins Gesicht.
Er prüfte auch seinen Bart. Erst am Morgen hatte er ihn nachgefärbt. Der von Schläfe zu Schläfe reichende schwarze Kranz kurzer, gekräuselter Haare stand ihm gut. Trotzdem würde er nach dem Coup keinen Bart mehr tragen, weder den echten blonden noch den gefärbten schwarzen. Leo und er waren sich darin einig gewesen, daß er für die Zeit der Recherchen sein Aussehen verändern mußte, weil ihn sonst einige Leute nach der Tat wiedererkennen könnten, zum Beispiel der Vermieter der Yacht, aber auch der des Hauses, und vielleicht sogar jemand, bei dem er nur Auskünfte eingeholt hatte. So hatten sie sich fürs Haarefärben und für das Abdecken weiter Teile des Gesichtes durch einen dunklen Bart entschieden. Beides zusammen würde optisch so dominant sein, daß die anderen, die echten physiognomischen Merkmale wie Augenfarbe, Nasen- und Mundform, daneben verschwänden. »Und natürlich«, hatte Leo gesagt, »muß das falsche Bild vor dem Coup gelten, das richtige hinterher, denn die Zeit danach ist tausendmal länger, ist der ganze Rest deines Lebens.«
Luisa kam nach
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