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1986 Das Gift (SM)

1986 Das Gift (SM)

Titel: 1986 Das Gift (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Nachttisch ab, setzte sich auf das breite Bett und zog einen mehrfach gefalteten kleinen Stadtplan aus der Hemdtasche. Er breitete ihn aus und betrachtete die Markierungen, die von seiner Hand stammten. Es waren pfenniggroße rote Kreise, in ungleichen Abständen über Acapulcos Straßengeflecht verteilt. Den letzten Kreis hatte er an diesem Vormittag eingezeichnet. Halblaut sprach er die Namen der fünf Plätze vor sich hin:
    »Nummer eins: Campo de Golfo , Nummer zwei: El Roble , Nummer drei: Vista Alegre , Nummer vier: Calle de Vicente Guerrero in der Colonia Miguel Alemán , Nummer fünf: Avenida de los Flamingos auf der Halbinsel Las Playas .« Er wiederholte die Namen, prägte sie sich ein. Bei jedem hatte er sofort den Ort vor Augen und auch den Weg, der dorthin führte.
    Er knüllte den Plan zusammen, legte ihn in den Aschenbecher, zündete ihn mit dem Feuerzeug an. Das Papier krümmte sich in der Flamme und wurde zu Asche.
    Er leerte sein Glas, streckte sich aus auf dem Bett, träumte sich hinein in die Zeit, in der alles überstanden sein würde. Ende Mai, überlegte er, kommen die anderen. Das ist in vierzehn Tagen, und dann haben wir die restlichen Vorbereitungen in einer Woche erledigt. Die Sache selbst wird, von der ersten Bekanntmachung an bis zur Geldübergabe, höchstens drei Tage dauern. Also: In einem Monat ist es geschafft! Dann fängt das Leben an, ein neues, schönes Leben! Die ersten ein, zwei Jahre vermutlich noch hier oder zumindest auf diesem Kontinent, aber wenn Gras über die Sache gewachsen ist, geht’s zurück nach Europa. Und dann gibt es bis zum Ende meiner Tage keine Beschränkungen mehr, keine Durststrecken, keine verzweifelten Versuche, mit dem letzten Jeton ein paar Hunderter zu machen. Nein, von da an wird alles anders laufen. Mit etlichen Millionen im Hintergrund kann ich mich auf Tage, auf Wochen in jedem Spielcasino einnisten und selbst anhaltende Pechsträhnen durchstehen. Und was die Frauen angeht, kann ich wählerischer sein denn je!
    Wie zehntausend Kilometer entfernt Leo Schweikert das neue Leben plante, so war auch Felix Lässer mit dem zu erwartenden Wandel befaßt, und was für jenen die Rache und die Genugtuung waren, das waren für ihn das Spiel und die Frauen.
    Er war schon immer ein Spieler gewesen. Im Alter von einundzwanzig Jahren hatte er das Pech gehabt, von einem kinderlos verstorbenen Onkel hundertvierzigtausend Mark zu erben. Jawohl, das Pech! Ihm war längst klar: Burschen wie er sollten so jung nicht erben, sondern aufs Arbeiten angewiesen sein. Aber es war nun mal geschehen. Hundertvierzigtausend Mark waren Mitte der sechziger Jahre eine ausreichende Basis, um zu gesicherten Einkünften zu kommen. Doch er, Felix Lässer, hatte damals nichts Eiligeres zu tun, als mit zwanzigtausend Mark ins nächste Spielcasino zu gehen. An jenem Abend gewann er elftausend, und das war das zweite Pech. Beim nächsten Casino-Besuch brachte er etwa dreitausend Mark Gewinn nach Haus, aber der übernächste riß ihn in den Strudel. Er verlor eine hohe Summe, hob am folgenden Tag neues Geld von seinem Konto ab, hatte es um halb vier am Nachmittag verspielt, fuhr mit dem Taxi zur Bank, bekam fünf Minuten vor Schalterschluß fünfundzwanzigtausend ausgezahlt. Abends um zehn war davon grad noch so viel übrig, daß er sich in der nächsten Kneipe ein Sandwich leisten konnte.
    Die Besinnungsphase setzte dann zwar ein, doch sie führte ihn in die falsche Richtung. Zweimal hat es geklappt, sagte er sich, und danach ging’s schief. Nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit muß es jetzt wieder bergauf gehen!
    So erschien er ein paar Tage später mit weiteren zwanzigtausend Mark auf dem riskanten Parkett. Und gewann viertausend. Am nächsten Tag verlor er die vierundzwanzigtausend, am übernächsten Tag einen ähnlich hohen Betrag. Auch die zweite Besinnungsphase führte ihn in die Irre, denn nun geriet ein verhängnisvoller Impuls ins Spiel, nämlich der, sich das Verlorene zurückerobern zu wollen. Kurzum, die fatale Mühle kam erst zum Stillstand, als drei Wochen später sein letztes Geld vom Tisch geharkt wurde.
    Was blieb, war der Stachel, war die Vorstellung, er könnte, wenn er Kapital, Ausdauer und ein wenig Glück hätte, von den Gewinnen, die die kleine Elfenbeinkugel ihm zuwies, auf Dauer seinen Lebensunterhalt bestreiten. Hinzu kam die Atmosphäre des Spielcasinos, die ihn immer noch faszinierte. Da waren die Geräusche: die verhaltenen Stimmen, das Sirren der Kugel und ihr

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