1986 Das Gift (SM)
Dort entdeckte Paul Wieland ein bekanntes Gesicht. » Hola , Renato!«
» Hombre , was sagst du zu der Sache?«
»Abwarten! Sind unsere Leute schon oben versammelt?«
»Ja. In Zimmer 1610. Wenn die Kanaillen doch wenigstens die Bevölkerung aus dem Spiel gelassen hätten!« Das Telefon klingelte. »Entschuldige bitte!« Der Mexikaner nahm den Hörer ab.
»Komm, wir versuchen es mit dem Lift!«
Aber vor den Fahrstühlen herrschte ein so großes Gedränge, daß er Petra gleich weiterschob. »Lieber die Treppe!«
Auch dort begegneten ihnen Hotelgäste, zum Teil mit Koffern beladen, aber je weiter sie hinauf gelangten, desto spärlicher wurde der Strom. Im elften Stock mußten sie verschnaufen.
»Es ist der sechzehnte, nicht?«
»Ja.«
Sie setzten ihren Weg fort. Es war zehn Minuten nach drei, als sie vor der Tür des Zimmers 1610 ankamen. Dort stießen sie erneut auf eine Gruppe von Menschen, die aber alle ohne Gepäck waren und sich ruhig verhielten. Sie sprachen in gedämpftem Ton miteinander.
Paul Wieland musterte sie. Es waren fünfzehn bis zwanzig Personen, und die meisten von ihnen konnte er auf Grund ihres Erscheinungsbildes und ihrer Gesprächsbeiträge mühelos einordnen. Vier Männer und zwei Frauen waren von der Presse. Andere trugen die weinroten Jacken der Hotelangestellten. Bei ihnen ging das Gespräch um einen Gast, der, wie einer der Männer sich erinnerte, das Zimmer 1610 schon vor längerer Zeit reserviert hatte, und der gestern eingezogen war. »Ich weiß es deshalb so genau«, sagte er, »weil der Mann unbedingt das Eckzimmer haben wollte und es zunächst Schwierigkeiten gab. Sein Vorgänger hätte das Zimmer nämlich gern noch langer behalten.«
Auch die Stadtvertretung war anwesend. Natürlich nicht die oberen Chargen, dachte Paul Wieland; die sind drinnen. Er trat an einen der Hotelangestellten heran und fragte:
»Ist der Kontakt schon hergestellt?«
»Ja, die Erpresser haben sich um Punkt drei Uhr gemeldet, und das Gespräch dauert offenbar immer noch an. Sobald Näheres bekannt ist, werden wir informiert. Sind Sie beide von der Zeitung?«
»Nein, wir sind von der Asociación de Hoteles und haben …«
Die Tür wurde geöffnet, und ein schon etwas älterer Mexikaner kam heraus. Eine imposante Erscheinung: eisgraues Haar, dunkles indianisches Gesicht mit hohen Wangenknochen. Die Durchsage mußte ihn auf einem Fest überrascht haben, denn er trug einen Smoking.
»Sie wollen tatsächlich fünfundsechzig Millionen Dollar«, sagte er, »ein exorbitantes Lösegeld!«
»Wieso denn ausgerechnet diese Summe? Und wer soll sie zahlen?« fragte eine der beiden Journalistinnen.
»Fünfundsechzig Millionen«, antwortete der Mann, »bedeuten fünf Prozent vom Jahresumsatz unserer Hotels. Und die Hotelbesitzer sind es auch, von denen sie das Geld haben wollen.«
Die Journalisten begannen sich Notizen zu machen. Der Mexikaner fuhr fort: »Wenn sie das Geld nicht kriegen, schlagen sie zu. Wie, das weiß ja wohl mittlerweile jeder.«
Paul Wieland hatte sich vorgearbeitet, stand dem Mann nun unmittelbar gegenüber, sagte zu ihm: »Ich bin einer der hoteleros , also ein Betroffener. Darf ich mal rein?«
»Wie ist Ihr Name?«
»Pablo Wieland vom Hotel REFUGIO«
Der Mann verschwand, kehrte gleich darauf zurück und sagte: »Bitte, aber nur Sie.«
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Paul Wieland zu Petra, und dann verschwand er, zusammen mit dem Graukopf, hinter der Zimmertür, an der in Augenhöhe ein ovales Messingschild mit der Nummer 1610 haftete.
3.
Paul Wieland staunte darüber, daß in so kurzer Zeit aus dem gut vierzig Quadratmeter großen Hotelzimmer ein geradezu militärisch anmutendes Hauptquartier hatte werden können. Von dem in eine Ecke geschobenen breiten Bett war nur noch die Konsole sichtbar; die vier Quadratmeter große Liegefläche jedoch war bedeckt mit Seekarten, Stadtplänen und zahlreichen anderen Papieren. Auch an der Wand hing ein Plan. Er zeigte die Stadt mit ihrer Bucht und war von den schwarzen Linien eines Koordinatennetzes überzogen.
Außer ihm selbst und dem Mexikaner im Smoking waren sieben Männer da. Einer saß neben der geöffneten Balkontür an einem Funksprechgerät, das mit einem Kassettenrecorder verbunden war; zwei standen draußen auf dem Balkon mit Ferngläsern vor den Augen. Die übrigen vier, der Direktor des Hotels, der Bürgermeister, der Polizeichef und ein Marineoffizier, waren mit dem Kartenmaterial beschäftigt. Auf der Seekarte, die am Fußende des Bettes lag, sah
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