1986 Das Gift (SM)
Die Belegschaft im Zimmer 1610 des Hotels REINA DEL PACIFICO war nicht mehr dieselbe wie zu Beginn. Der Bürgermeister, der Pressesprecher, der Polizeichef, der Vizeadmiral und auch Paul Wieland waren noch dabei; die anderen hatten wichtige Aufgaben im Rathaus übernommen.
Aber es waren auch ein paar neue Männer gekommen, so der Chemiker Dr. Luis Peralta von der Universität in México City, der Oberst Vicente Cobarrubia als Leiter eines militärischen Sonderkommandos, das sich seit einigen Stunden in Acapulco befand, der Psychologe Dr. Alfonso Reyes, ferner Eugenio Cabrera, erster Vorsitzender der Asociación de Hoteles , und ein Mann vom Ministerium für Tourismus aus der Hauptstadt, der Licenciado Gerardo Jiménez.
Die Männer hatten eine leichte Mahlzeit eingenommen, Suppe und Sandwiches. Jeder hatte gegessen, wo er gerade saß, auf dem Bettrand, am Schreibtisch, auf dem Balkon. In den beiden Nachbarzimmern, zu denen es Verbindungstüren gab, waren Mitglieder des erweiterten Krisenstabes versammelt, Männer und Frauen der Stadtverwaltung, ein Arzt, ein Ingenieur vom Bauamt, zwei Polizeioffiziere, ein Kapitän zur See und ein Fregattenkapitän von der Base Naval , Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen und ein paar Dolmetscher.
Der Bürgermeister hatte Dr. Peralta gebeten, die Anwesenden möglichst kurz über die Gefahren des Dioxins zu informieren, und der junge Chemiker wollte gerade mit seinem Vortrag beginnen, da läutete das Telefon. Garcia nahm das Gespräch entgegen.
»Für Sie, don Jerónimo. Es ist der sargento Vicuña.« Der Polizeichef nahm den Hörer.
» Ola , Serafín, was gibt’s Neues?«
Danach war es lange still in dem Raum. Der Polizeichef lauschte in den Hörer, und alle anderen versuchten, von seinem Gesicht abzulesen, ob es eine gute oder eine schlechte Nachricht war, die er empfing. Erst nach etwa drei Minuten sagte er:
»Danke, Serafín! Ihr habt schnell gearbeitet.« Dann legte er den Hörer auf und teilte den anderen mit: »Das Boot da draußen«, er nickte in Richtung auf die Bucht, »ist eine HochseeYacht aus Zihuatanejo. Sie heißt FLECHA. Ein Deutscher hat sie gemietet. Etwa vierzig Jahre alt, dunkelhaarig, schwarzer Bart. Name: Andreas Mettmann. Der Vermieter hat sich natürlich die Personalien aus dem Paß herausgeschrieben. Eben kam das Telex aus Deutschland: Der Paß ist falsch.«
»Das war nicht anders zu erwarten«, sagte Garcia, und dann fuhr er gleich fort: »Sicher wäre es sinnvoll, sich die Konstruktionspläne der FLECHA zu besorgen. Dann wüßten wir schon mal, wie es an Bord aussieht, falls wir …«, er zögerte einen Moment, »angreifen sollten.«
»Der Mann, mit dem ich eben sprach«, antwortete der Polizeichef, »besorgt die Pläne schon. Ich fürchte nur, sie werden uns nicht viel nützen. Die Männer hatten Zeit genug zum Basteln.«
»Okay«, der Bürgermeister wollte vorankommen und wandte sich wieder an den Chemiker: » Doctor , erzählen Sie uns was über dieses verfluchte Gift!«
Peralta stellte sich mitten ins Zimmer. »Die Experten in aller Welt«, sagte er, »sind sich noch immer nicht einig darüber, wie schädlich das Dioxin nun wirklich ist. Das TCDD, also das Seveso-Gift – es gibt viele verschiedene Arten von Dioxinen –, ist bei einer Reihe von Tierversuchen angewandt worden und hat sich bei Ratten eindeutig als Tumor-Promotor erwiesen, also als krebserzeugend. Ob diese Wirkung aber auch beim Menschen eintritt, ist nicht bekannt. Die Wissenschaft sieht sich noch nicht in der Lage, verbindlich anzugeben, bis zu welchem Grenzwert eine Gefährdung des Menschen auszuschließen ist. So kenne ich zum Beispiel das Urteil des Ordinarius für Arbeitsmedizin an der Universität Hamburg, Professor Lehnert. Danach gelten selbst fötale Fehlbildungen oder Fruchtbarkeitsstörungen nach Dioxinunfällen wissenschaftlich als nicht eindeutig erwiesen. Lehnert räumt zwar gesundheitliche Schäden ein, hält aber eine durch Dioxin hervorgerufene ›Übersterblichkeit an Krebserkrankungen‹ ebenfalls für noch nicht nachweisbar. Andererseits gibt es, wie Sie wahrscheinlich wissen, die an Vietnam-Soldaten vorgenommenen Untersuchungen, deren Ergebnisse eine Flut von Prozessen ausgelöst haben. Wie dem nun auch sei, eines muß ich in aller Deutlichkeit sagen: Eine Freisetzung von faßweise gelagerten dioxinhaltigen Substanzen mit einer Konzentration von 1000 ppm würde unzweifelhaft aus Acapulco ein zweites Seveso machen, und diese Aussicht ist für mich
Weitere Kostenlose Bücher