1986 Das Gift (SM)
noch etwas Zeit. Ich geh’ mit Raúl den nächsten Text durch.«
»Übersetz’ ihm, was ich dir eben alles erzählt hab’.«
»Mach’ ich.«
Als Leo verschwunden war, setzte Fernando den Mexikaner ins Bild. Er machte es sehr kurz, riß dann ein leeres Blatt Papier aus seinem Block und schrieb: »Bist du innerlich voll dabei?« Er schob den Zettel hinüber zu Raúl. Der las die Worte, nahm Fernando den Stift ab und schrieb:
»Nicht mal halb. Hab’ Angst, daß die Sache schiefgeht. Die Bucht ist eine Mausefalle.« Fernando las die Antwort, nickte und hielt sein Feuerzeug an das Papier. In wenigen Sekunden war das Blatt zu Asche geworden. Er griff erneut nach dem Stift, aber dann war ihm das Schreiben doch zu lästig, und so flüsterte er:
»Für mich ist die Sache, glaub’ ich, ’ne Nummer zu groß.«
»Und mich«, flüsterte Raul zurück, »haben sie ja gezwungen! Was sollte ich machen?«
»Ja, das mit dem Bullen im cañón ! Unser Unternehmen hatte noch nicht mal richtig angefangen, und schon gab’s den ersten Toten! Als Leo uns die Geschichte erzählte, kriegte ich fast zuviel.« Fernando senkte die Stimme noch mehr, so daß Raúl sich über den Tisch beugen mußte, um ihn verstehen zu können: »Wenn wir an Land wären, würde ich aussteigen.«
»Ich auch«, antwortete Raúl, »aber wir sind nicht an Land, und es gibt keine Chance, von Bord zu kommen.«
Fernando sah auf die Uhr. »Wir müssen rauf!«
Sie gingen nach oben, und so waren nun alle sechs auf der Brücke versammelt. Richard Wobeser saß vor den Armaturen, sah auf seine Armbanduhr. »Noch eine Minute!«
»Wo ungefähr wird es sein?« fragte Georg.
Leo streckte den Arm aus in Richtung auf die Altstadt. »Da! Aber ganz oben. Es ist das Paket, das wir unter der verlassenen Hütte vergraben haben.«
»Noch vierzig Sekunden«, sagte Richard.
Alle blickten hinüber, suchten sich oberhalb der Kathe drale einen Punkt auf der Hügelkante, und Leo sagte:
»Auch die anderen gucken jetzt dahin; jeder weiß, wo es passieren wird.«
»Noch zehn Sekunden … acht … sechs … vier … drei, zwei, eine, jetzt!«
Es war wie eine dramatische Filmszene, aber eine ohne Ton und darum so frappant, denn keiner der Männer hatte bedacht, welchen Weg der Schall zurücklegen mußte, bis er bei ihnen ankam. Sie sahen die rote Lohe emporschießen, haushoch. Aber dann war der Lärm doch da, nicht als ein einzelner harter Schlag, eher verzogen wie ein Donnergrollen.
»Na«, sagte Richard, »wie war unsere Premiere?«
»Eindrucksvoll«, antwortete Felix. »Hoffentlich sind die da drüben derselben Meinung, denn davon hängt es ab, ob wir Erfolg haben.«
»Los!« sagte Leo und schob Fernando ans Sprechgerät.
»In zwei Minuten! Erst rufen und die Antwort abwarten und dann eiskalt den Text Nummer vier vorlesen!«
»Und wenn die wieder mit so blöden Fragen kommen? Oder mir erzählen, daß das alles gar nicht zu machen ist? Was soll ich ihnen dann sagen?«
»Wir lesen nur den Text«, erklärte Leo, »und geben ihnen keine Gelegenheit, ihre Tiraden abzulassen; das heißt, antworten können sie, aber wir reagieren nicht drauf. Und wenn es uns zu bunt wird, schalten wir einfach unser Gerät für ’ne Weile ab. So, es ist soweit!«
5.
»Da geht es schon wieder los! Ich kann es nicht mehr hören!« Christine schlug sich die Hände an die Ohren und senkte den Kopf, blieb in dieser Haltung neben ihrem halbgepackten Koffer stehen, der auf dem Bett lag. »Sag mir Bescheid, wenn der Kerl aufgehört hat!«
Petra kam vom Balkon herein, schloß die Tür, zog sogar den Vorhang vor, trat auf die Freundin zu, nahm deren Hände und führte sie sanft abwärts. »Hab’ alles dichtgemacht. So ist es zu ertragen. Wir können auch noch Musik aus dem Radio holen.« Sie schaltete das Gerät ein, doch da gab es eine Sondersendung. Der Sprecher forderte die Bevölkerung von Acapulco auf, die Stadt zu verlassen, mahnte aber zur Ruhe und sagte, für überstürzte Eile oder gar Panik sei kein Grund vorhanden. Dann teilte er den Hörern mit, welche Stadtgebiete von Flüchtlingen überfüllt seien, und gab Ratschläge, wie man die überlasteten Ausfallstraßen umgehen könne.
»Ich mach’ den Kasten lieber wieder aus«, meinte Petra und drückte auf den Knopf. »Sag mal, wo steckt denn jetzt dein Flugkapitän?«
»Er muß heute früh um sechs auf dem Flughafen sein. Wir wollten gerade in die Disco UBQ, als die erste Durchsage kam, und da brachte er mich lieber ins REFUGIO. Hätte ich ihn doch bloß
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