1986 Das Gift (SM)
transportiert hatte. Aber der hüllte sich, soweit ich mich erinnere, über den Verbleib des Giftes in Schweigen. Zum Schluß redete er dann doch. Und wißt ihr, wo man die Fässer fand? In einem kleinen französischen Dorf namens Anguilcourt-le-Sart. Da lagen sie, nicht weit weg von Schule und Kindergarten und zugedeckt mit einer Kunststoffplane! Ich weiß noch, daß eine Zeitung schrieb: ›Schlechter gesichert als Omas Eingemachtes und Opas Porno.‹«
»Und so ungesichert«, sagte Paul Wieland, »liegen sie wahrscheinlich auch bei uns. Also müßt ihr raus hier, so schnell wie möglich! Ich will es so!«
Nach einigem Hin und Her fügten sich wenigstens die Eltern seinem Wunsch, aber Petra beharrte auf ihrem Entschluß, die Stadt nicht ohne ihn zu verlassen.
»Soll ich fahren?« fragte der Vater.
»Nein, das macht Manolo, aber er liefert euch nur ab und kommt dann zurück.«
»Wohin geht es denn überhaupt?« wollte die Mutter wissen.
»Nach Puerto del Gallo zu Manolos Familie«, antwortete der Sohn. »Es ist eine Strecke von etwa hundertzwanzig Kilometern. Zum Glück geht es nicht in Richtung Hauptstadt, sondern an der Küste entlang über Coyuca und Atoyac und dann hinein in die Sierra. Ihr werdet also schneller vorankommen als die vielen, die jetzt noch auf der Straße nach Chilpancingo im Stau stecken. Packt jetzt ein paar Sachen zusammen! Viel braucht ihr nicht; es ist ja hoffentlich nur für ein paar Tage.«
Schon eine Viertelstunde später fuhr Manolo mit dem VWBus vor. In der Zwischenzeit hatte Paul Wieland die noch im Hause verbliebenen Gäste und Angestellten in der Halle zusammengerufen und sie beschworen, die Stadt zu verlassen. Es waren – seine Eltern und Petra nicht eingerechnet – acht Personen, in der Mehrzahl Gäste. Aber nur einer von ihnen entschloß sich zur Mitfahrt nach Puerto del Gallo.
Paul Wieland und Petra winkten den Abreisenden nach, und als der Wagen verschwunden war, sagte Petra: »Nun steh’ ich hier schon zum zweiten Mal und nehme Abschied. Die Männer da draußen in der Bucht haben eine Stimmung erzeugt, als wäre Krieg. Mein Vater hat mir manchmal von den Trecks erzählt, die 1945 nach Westen zogen. Er war als achtzehnjähriger Soldat in Pommern und hat viele solcher Abschiede gesehen, auch viele Gespräche mitangehört, in denen es um die Frage ging: Bleiben oder fliehen? Was sich hier jetzt abspielt, erinnert mich daran.«
»Und auch damals«, antwortete er, »waren es Menschen, die das alles verschuldet haben! Es ist seltsam, mit einem Erdbeben oder mit einer Flutkatastrophe würde ich eher zurechtkommen, und ich glaube, so empfinden viele. Von Menschen gestiftetes Unglück erträgt man schwerer. Mit Gott kann man hadern, aber man erklärt ihn nicht zu seinem persönlichen Feind. Ich will es dir ganz offen sagen: Immer wieder ertappe ich mich dabei, daß ich an Rache denke. Er ist einfach da, der Gedanke, daß sie nicht davonkommen dürfen.«
Er nahm ihre Hand, und sie gingen durch den Garten. Sie spürte, daß er weiterreden wollte, und wirklich, kaum hatten sie den Plattenweg betreten, sagte er: »Ich will diese Männer jagen! Aber glaub’ mir, ich will es nicht nur wegen des Geldes, das ich zahlen soll. Dabei gehöre ich gar nicht zu den Fanatikern, war nie darauf versessen, daß unbedingt jeder Gauner gefaßt und vor den Kadi gezerrt werden muß. Mein Gott, was wird hierzulande geklaut und verschoben, und wie oft ist es der Hunger, der die Leute treibt! Das Unrecht hat viele Gesichter, und man muß sie sorgfältig auseinanderhalten. Nein, was mich an diesen Verbrechern so aufbringt, ist das Perfide ihrer Tat. Gerade ist die Menschheit dabei, ein Umweltbewußtsein zu entwickeln, und prompt überlegen sich ein paar Leute, ob es nicht auch das dazu passende Verbrechen gibt. Seveso war ein Unglück, und es hat die Menschen aufgeschreckt. Also haben die Burschen sich gesagt: Das können wir auch! Wie böse und niederträchtig und moralisch verkommen sie sind, wird schon dadurch deutlich, daß sie die Schreckensbilder von Seveso in ihren Durchsagen immer wieder herunterhämmern. So nach dem Motto: Seht nur, Leute, was wir da alles für euch haben, wenn ihr nicht spurt! Wer fähig ist, in der Gefahr von Fehl- und Mißgeburten ein geeignetes Druckmittel zu sehen, seine Trumpfkarte sozusagen, der ist nichts anderes als Abschaum.« Sie waren beim Schwimmbecken angekommen, blieben stehen.
»Ich glaube«, sagte Petra, »du solltest sie lieber nicht jagen.
Nicht du!«
»Also
Weitere Kostenlose Bücher