1986 Das Gift (SM)
hatten, Einwohner, Reporter, Touristen, auch einige der Indios aus der Umgebung, die tagsüber am Flutsaum Souvenirs verkauften. Der zum Hotel gehörende Strandabschnitt glich einem Biwak. Wieland sah offene Feuerstellen, auf denen Kaffee gekocht und Fleisch gebraten wurde. Und er sah Schlafende: auf ausgebreiteten Decken, auf Luftmatratzen, in Sandmulden. Erdachte: Das sind auch alles Leute, die dem Bürgermeister Kopfzerbrechen bereiten, weil sie nicht gehen wollen, aber zu den Gleichgültigen gehören sie nicht, denn sie haben sich an einer Stelle eingefunden, an der es Informationen gibt.
Und prompt kamen auch fünf, sechs Personen auf ihn zu und bestürmten ihn mit Fragen.
Er wollte der offiziellen Durchsage nicht vorgreifen, erklärtenur: »Es ist sehr ernst. Wir verhandeln noch immer.«
»Was ist mit dem Faß?« fragte eine junge Frau. »Die Gangster haben doch gestern abend bekanntgegeben, daß sie Ihnen eins zur Prüfung überlassen haben.«
»Es wird noch geprüft. Im Labor. Die chemische Analyse braucht ihre Zeit. Sobald das Ergebnis feststeht, erfahren Sie es.«
»Wer sind diese Bestien?«
»Wir wissen es nicht.«
»Wird gezahlt?«
»Vielleicht. Wie gesagt, wir sind noch am Verhandeln. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muß weiter.«
Er lief an den von Pfählen getragenen und aus Palmwedeln geflochtenen Sonnenschutzdächern entlang, sprang dabei von links nach rechts und wieder nach links, um nicht auf die Menschen zu treten, die im Sand lagen.
Er bog um die Ecke des Hotelgebäudes, lief zur Costera , hatte den Eindruck, daß sie nicht mehr ganz so überfüllt war. Dennoch, die Autos kamen nur im Schrittempo voran, und deshalb befürchtete er, daß sein Jeep sich noch immer nicht vom Bürgersteig der Avenida Farallón auf die Straße manövrieren ließe. Taxis gab es nicht, und so ging er zu Fuß nach Haus, benutzte wieder Nebenstraßen, brauchte, da er sich im Laufschritt bewegte, nicht mehr als eine knappe Viertelstunde.
Im Foyer des REFUGIO saßen nur noch wenige Gäste in den Sesseln, unentschlossene und solche, die bleiben wollten. Auch sie bestürmten ihn mit Fragen, die er in der gleichen Weise beantwortete wie die der Leute vom Strand.
Dann lief er weiter, lief die Treppe hinauf, öffnete die Tür zu seiner Wohnung. Dort hatten seine Eltern und Petra gewartet, auf seinen Anruf oder auf sein Kommen.
»Junge, wie sieht es aus?« Die Mutter ergriff seinen Arm. Johann Wieland und Petra kamen vom Balkon herein.
»Es ist leider kein Bluff!« Er löste sich von seiner Mutter, drückte sie sanft in einen Sessel. »Sie haben uns eins ihrer Fässer zur Überprüfung ausgeliefert, und nun wissen wir: es ist Dioxin. Ich möchte euch alle drei bitten, die Stadt zu verlassen. Es wäre Wahnsinn, hierzubleiben, wenn man dafür keine absolut zwingenden Gründe hat.«
»Und du?« fragte die Mutter.
»Für mich gibt es Gründe. Ich gehöre zum Krisenstab und außerdem, leider, auch zu denjenigen, die zahlen sollen. Es werden laufend Verhandlungen mit den Erpressern geführt, und unter ihnen ist vielleicht auch ein Deutscher.«
»Paul«, sagte der Vater, »wenn jetzt feststeht, daß es Dioxin ist, kann es zu der angedrohten Katastrophe tatsächlich kommen. Ich erinnere mich noch genau an die dramatischen Berichte über Seveso. Die standen Tag für Tag in der Zeitung, und auch das Fernsehen war voll davon.«
»Das weiß ich auch noch«, sagte Petra. »Wochenlang gab es fast kein anderes Thema. Und ich weiß auch noch, daß meine Eltern alte Rechnungen heraussuchten, weil sie nachsehen wollten, welche Farben und Holzschutzmittel in unserem Haus verwendet worden waren. Es gab damals eine regelrechte Dioxin-Hysterie.«
»Aber so lange ist das noch nicht her«, meinte die Mutter.
»Ich glaube, es war erst vor drei oder vier Jahren.«
»Da war es die zweite Hysterie«, antwortete der Vater, »die Jagd nach den Fässern.«
»Wie kam es eigentlich dazu?« fragte Paul Wieland. »Ich hab’ das von hier aus gar nicht richtig mitgekriegt.«
»Das Seveso-Gift war verschwunden«, antwortete Petra.
»Niemand wußte, wo es geblieben war. Halb Europa kam in Frage. Ich glaube, man fand dann heraus, daß es in der DDR gelandet war, auf der Deponie Schönberg.«
»Ja, so hieß es eine Zeitlang«, sagte Johann Wieland, »aber das erwies sich als eine Falschmeldung. Man suchte also fieberhaft weiter. Bis dahin stand nur fest, daß ein Unternehmer aus Marseille die einundvierzig Fässer über die italienischfranzösische Grenze
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