1986 Das Gift (SM)
findest du meine Ansichten zu radikal?«
»Zu unflexibel. Du hast doch die Leute nie gesehen!« »Ich hab’ sie gehört und sehe die Angst einer ganzen Stadt.
Und sehe, wie ich selbst ihnen gehorche, gehorchen muß. Und sehe, wie Hunderttausende auf den Beinen sind, bestimmt viele schwangere Frauen darunter! Auch Verbrechen haben eine Handschrift, einen bestimmten Stil, sagen etwas aus über den Charakter der Leute, die sie begehen. Das hier ist eine neue Dimension des Bösen. Ich bin, was dich vielleicht überrascht, ein Gegner der Todesstrafe, aber für diese Männer würde ich sie wieder einführen. Trotzdem kannst du beruhigt sein: Ich krieg’ die Kerle wahrscheinlich nicht, denn du hast schon recht, ich hab’ das nicht gelernt.«
Er umarmte sie, drückte sie an sich. »Ach ja, das haben sie ja auch noch auf dem Gewissen! Ich liebe dich, und eigentlich sollte es jetzt wunderschöne Tage geben. Und Nächte. Aber dieses Gesindel kommt daher und schüttet sein Dioxin in meine Träume. Auch das müßte ja wohl bestraft werden.« Er küßte sie, lächelte, und dann fragte er: »Findest du nicht auch?«
»Ja«, antwortete sie, »und natürlich wünsche ich mir, daß die Männer gefaßt werden. Wir beide sind bis jetzt ja noch gut dran; andere hat es härter getroffen. Vorhin kam durchs Radio, daß bei Tierra Colorada ein Lastwagen voller Flüchtlinge verunglückt ist. Er stürzte in eine Schlucht. Es gab Tote und Verletzte. Ich bin übrigens gar nicht so weit entfernt von deiner Art zu denken, wie du meinst. Wenn sie gefaßt würden und ich wäre die Richterin, dann gäbe es bestimmt kein mildes Urteil. Aber ich würde erst ihre Geschichte hören wollen. Das ist der ganze Unterschied zwischen uns beiden. Du würdest sie um sieben Uhr fangen und um zwei nach sieben hängen, glaube ich. Bei mir wäre das ganz anders. Sie sind Teufel, und ich würde genau wissen wollen, wie sie’s geworden sind.«
Sie gingen zurück ins Haus, suchten nach Soledad, fanden sie in der Küche.
»Warum gehst du nicht auch?« fragte Wieland die alte Indianerin.
»Einer muß doch dieses Haus hüten«, antwortete sie.
»Und deine Familie?«
»Ist in Sicherheit.«
»Kochst du uns einen starken Kaffee?«
»Ich hab’ einen fertig. Er ist ganz frisch.« Sie machte ein Tablett zurecht. »Soll ich es nach oben bringen?«
»Ich nehme es«, sagte Petra.
Paul Wieland und sie gingen hinauf in den Turm, setzten sich diesmal nicht auf den Balkon, wollten die Bucht nicht sehen. Doch sie ließen die Tür offen, um keine Durchsage zu versäumen, zogen nur den Vorhang vor.
»Wann mußt du wieder gehen?«
»Schon bald. Um acht Uhr wird weiterverhandelt, und vorher muß ich mich bei meinen Kollegen sehen lassen.«
»Wieviel Geld wirst du verlieren?«
»Das hängt davon ab, wie weit wir die geforderte Summe herunterhandeln können.«
»Und woher nehmt ihr so schnell das viele Bargeld, noch dazu Devisen?«
»Wir haben es schon zusammen. Der größte Teil kam von den Banken der Hauptstadt. Per Flugzeug. Aber heute wird es noch eine Menge Arbeit geben, denn die Gelder müssen trotz allem wie ordnungsgemäße Darlehen behandelt werden, mit Hypothekenbriefen und Schuldverschreibungen und so weiter. Die Banken haben nicht nur ihr Geld geschickt, sondern auch ihre Anwälte, und im Laufe des Vormittags erscheinen die Notare von Acapulco im REINA DEL PACIFICO, das heißt, soweit sie nicht geflüchtet sind.«
»Meinst du nicht, daß man die Gangster fassen wird, sobald sie das Geld in Umlauf setzen? Auf Grund der Seriennummern?«
»Natürlich werden die notiert, aber vielleicht fangen die Burschen erst in zwei oder drei Jahren an, es auszugeben, in Kapstadt oder in Melbourne oder was weiß ich, an welcher Ecke der Welt. Es gibt sogar Banken, die heißes Geld kaufen.« Er stand auf, reckte sich. »Sie bringen nicht nur meine Finanzen durcheinander und meine Liebe, sondern auch meinen Schlaf, meine Ernährung, meine Hygiene. Ihr Schuldkonto wird immer größer. Ich glaube also, ich muß sie doch jagen! Aber jetzt will ich erst mal duschen und mich umziehen.«
»Und etwas essen mußt du, nicht immer nur Kaffee trinken und rauchen!«
»Das ist eine gute Idee. Jetzt, wo du’s sagst, merke ich, daß ich Hunger hab’. Sag Soledad, sie soll uns huevos rancheros machen! Die werden mir guttun und dir auch.«
Beim Duschen überfiel ihn plötzlich lähmende Müdigkeit. Er spürte, daß er im Begriff war, im Stehen einzuschlafen. Daher schaltete er auf »kalt« und war in
Weitere Kostenlose Bücher