1988 VX (SM)
Der brauchbarste war der auf die Baufirma. Die Untersuchungen haben erbracht, daß die aus der Konkursmasse stammenden Maschinen tatsächlich beim Tunnelbau benutzt worden sind. Wir haben auch die Firma ausfindig gemacht, die die Rohrstücke geliefert hat. Es paßt alles zusammen. Nur: Dieser Rüdiger Krages ist weg. Er ist übrigens kein Unbekannter, gehörte früher schon mal zur Szene, hat dann eine kleinere Strafe abgesessen, galt seither aber als bekehrt. Nach ihm und seinem ebenfalls verschwundenen Mitarbeiter wird gefahndet. Im ganzen mögen zehn bis fünfzehn Personen an der Sache beteiligt sein, und irgendwann kriegen wir sie! Aber jetzt etwas anderes! Es gibt an dieser VX-Aktion einen Aspekt, der uns rätselhaft ist. Dr. Häßler, Sie sind an der Reihe!«
Der Angeredete, ein schmalschulteriger, blasser Mann von etwa vierzig Jahren, sagte daraufhin: »Mittlerweile wissen Sie ja alle über das VX ganz gut Bescheid. Da brauche ich nichts zu erklären. Dieses schreckliche Nervengift kann heutzutage überall produziert werden, und mit den entsprechenden Schutzvorrichtungen könnten auch wir es in unserem Labor ohne Schwierigkeiten herstellen. Der Osten hat es natürlich ebenfalls. Es ging den Terroristen also mit Sicherheit nicht um die Ergründung chemischer Formeln! Was also hat sie veranlaßt, diesen aufwendigen und riskanten Tunnelbau vorzunehmen? Auch um den Tod der GIs und die Beschädigung der Panzerfahrzeuge konnte es ihnen nicht gehen. Worum dann? Das, meine Herren, ist das Rätsel.«
Schattner nahm das letzte Wort auf und sagte: »Rätseln wir also ein bißchen herum! Dr. Häßler hat recht. Wer hunderttausend Mark ausgibt – diese Summe, so schätzen unsere Fachleute, ist in die Sache investiert worden –, der hat Hintermänner, die sich das VX auch anderweitig und viel einfacher hätten beschaffen können. Ich glaube daher, daß wir es mit einem jener Fälle zu tun haben, bei denen der Besitz eine geringere Rolle spielt als die Inbesitznahme. Zum Beispiel kann es der VITANOVA darum gegangen sein, Anfälligkeit vorzuführen. Sie wollte die westdeutsche oder sogar die westeuropäische Bevölkerung allergisch machen gegen die Lagerung chemischer Waffen und möglicherweise nicht nur chemischer. Wer in seinem Land die Entwendung von Giftgasgranaten aus einem als sicher geltenden Depot erlebt, wird auch die von Atomsprengköpfen befürchten. Jede Demokratie wird von Zeit zu Zeit durch Skandale erschüttert, auch unsere. Die Bevölkerung ist eine Zeitlang betroffen, irritiert, geht aber irgendwann zur Tagesordnung über. Ich halte es für möglich, daß der Anschlag in Wasloh darauf abzielt, eine Erschütterung zu erzeugen, die eine neue Dimension hat, eine, die bis in die Fundamente reicht. Was bedeutet das für uns? Nichts Gutes, denn wer auf so drastische Weise Anfälligkeit vorführen will, wird sich nicht damit begnügen, die Granaten gestohlen zu haben. Nein, er wird sie auch einsetzen wollen! Wenn ich dem Mann von der Zeitung gesagt habe, man könne überhaupt nichts machen, so stimmt das natürlich nicht. Wahr aber ist: Wir können bei der Durchführung unserer Gegenmaßnahmen alles andere eher brauchen als eine in Panik geratene Bevölkerung. Darum die Nachrichtensperre in puncto VX. Was bereits läuft, sind zwei Aktionen. Erstens die Fahndung nach den Tätern mit allen verfügbaren Mitteln und zweitens: Das Manöver in Norddeutschland wird ein paar Nummern kleiner durchgeführt und mit gewissen Abänderungen, weil wir nämlich gleichzeitig, das heißt schon ab heute, Truppen in allen westdeutschen Großstädten konzentrieren. Unsere NATO-Partner schicken größere Kontingente, als für das Manöver vorgesehen waren. So sind aus den USA zusätzlich fünftausend Mann unterwegs. Die Sondereinheiten aus Frankreich und England sind bereits gelandet. Zugleich werden andere europäische Großstädte im NATO-Bereich mit Einsatztruppen versorgt, zum Beispiel Kopenhagen und Oslo. Wir vermuten, daß die Terroristen ihr Giftgas in einem Gebiet mit großer Bevölkerungsdichte zum Entweichen bringen werden, um einen möglichst nachhaltigen Effekt zu erzielen. Nehmen wir mal Frankfurt! Wenn die Granaten auf dem Hauptbahnhof losgehen, gibt es mit Sicherheit ein paar tausend Tote, aber das Militär ist dann schnell zur Stelle und kann den Gefahrenbereich abriegeln. Es werden auch chemische Kampftruppen sowie GSG-9-Männer auf den wichtigsten Flugplätzen in Bereitschaft gehalten, so daß sie in kürzester Zeit
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