1988 VX (SM)
an jeden beliebigen Ort in Europa gelangen können. Unser Land ist mit einsatzbereiten Kommandos überzogen, und überall sind Ärzte und Chemiker dabei. Und was die Schutzanzüge betrifft, wird alles, war vorhanden ist, zur Verfügung gestellt, und auch in diesem Punkt hilft uns das befreundete Ausland.«
»Läßt sich das geplante Manöver trotz dieser gewaltigen Bindung militärischer Kräfte denn noch durchführen?« fragte Lemmerts Nebenmann, und darauf antwortete Oberst Conrady vom Abschirmdienst: »Es ist äußerst wichtig, daß wir daran festhalten. Aus mehreren Gründen. Wir können unmöglich eingestehen, daß ein einzelnes Attentat unsere militärische Schlagkraft lahmlegt. Immerhin haben wir Beobachter aus zahlreichen Ländern dabei, auch aus dem Osten. Jetzt zu erklären, wir könnten das Manöver nicht durchführen, das wäre ungefähr so, als würden wir angegriffen und müßten dann unseren Gegnern sagen: Entschuldigt, Leute, wartet bitte noch ein bißchen mit eurem Krieg, wir müssen erst noch ein anderes Problem bewältigen! Außerdem, wenn wir jetzt an verschiedenen Standorten Einheiten zusammenziehen, fällt das natürlich auf. Die Fragen nach dem Zweck dieser Betriebsamkeit, die unweigerlich kommen, beantworten wir dann ganz gelassen mit der Erklärung: Das sind Manöverbewegungen.«
Nun hatte Lemmert eine Frage. »Ich bin kein Soldat«, leitete er sie ein, »aber wir haben ja einen hier, und so frage ich Sie, Herr Oberst: Können die Terroristen ihre Granaten überhaupt abschießen? Brauchen sie dazu nicht ein ganz spezielles Geschütz?«
Conrady nickte. »Das haben wir in unserem Stab schon erörtert. Vermutlich werden sie nicht mit einer Kanone auftauchen. Denkbar ist eher der Abwurf aus einem Flugzeug, und da genügt eine kleine Sportmaschine. Also haben wir auch die Luftkontrolle entsprechend verstärkt. Privatflugzeuge dürfen seit gestern nur mit einer Sondergenehmigung starten. Natürlich bannt das nicht die Gefahr, denn die Granaten können ja erstmal ins Ausland geschafft worden sein und dann zurückgebracht werden. Außerdem erstreckt sich unser Startverbot nur auf Flugplätze. Mit anderen Worten, wir können nicht jeden Kartoffelacker und jede Wiese unter Kontrolle halten. Soviel zur Bedrohung aus der Luft. Es gibt aber auch noch eine ganz andere Möglichkeit, und die hängt zusammen mit dem, was Dr. Häßler vorhin ausgeführt hat, also mit der relativ einfachen Herstellung von VX. Es könnte sein, daß die Terroristen schon vor ihrem Anschlag auf das Depot kleinere Sprengkörper mit VX, zum Beispiel Handgranaten, in ihrem Besitz hatten. Die bringen sie nun zum Einsatz, geben aber vor, es handelte sich dabei um die aus dem amerikanischen Lager gestohlenen Bestände. Eine mit allen Wassern gewaschene Terrorgruppe, die von der Logistik bis hin zum Geld und zu den Experten über alles verfügt, was bei einem militärischen Einsatz erforderlich ist, kann sich in der Tat VX besorgen, ohne erst einen hundert Meter langen Tunnel und ein Schwimmbad zu bauen und vierzehn Menschen zu töten. Das heißt im Klartext: Ein VX-Anschlag allein bringt noch nicht die Wirkung, die sie haben wollen; das schafft erst die Kombination aus dem geglückten Anschlag und dem Nachweis schlampiger Verwahrung. Wenn hier bei uns VX freigesetzt wird und dann rauskommt, daß es – sagen wir mal – irgendwo in Asien oder Afrika gelagert war, haben wir wegen der furchtbaren Wirkung zwar auch die Panik, aber wir haben nicht die Schuld, und also bleibt, um die Worte von vorhin aufzugreifen, die fundamentale Erschütterung der Demokratie aus. Was uns jetzt vermutlich bevorsteht, ist folgendes: Die Katastrophe findet statt, und die Schuldzuweisung wird gleich mitgeliefert, auch wenn das VX gar nicht aus Wasloh stammt. Die Terroristen könnten praktisch mit einem schon seit Wochen gefüllten Flakon in ein Kaufhaus spazieren, ihn in der Parfümerieabteilung heimlich gegen einen anderen austauschen, so daß die nächste Kundin, die von der Verkäuferin besprüht wird, aus den Schuhen kippt und qualvoll zugrunde geht. Und wenig später ist der ganze Laden ein einziges Leichenschauhaus. Dann steht, in Verbindung mit den entsprechenden Publikationen durch die Medien, für jeden Bundesbürger fest: Das Gift stammt aus Wasloh! Darum wollen wir ja auch diese verdammte Granaten-Passage aus dem Bekennerbrief raushalten. Die Panik wird’s ohnehin geben, aber je später sie einsetzt, desto besser. Und ganz vielleicht gelingt es uns
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