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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Streugutkiste zu, aber er lenkte sie weiter, ritt bis zum Blockhaus, stieg ab, befreite das Tier von Sattel und Zaumzeug und band es an einen in der Holzwand befestigten Ring. Dann trat er ein.
    Er setzte sich gleich an den Tisch, zog aus der Innentasche seiner Jacke ein Notizbuch hervor, legte es vor sich hin, schlug es auf. Ein Dutzend Blätter waren schon gefüllt. Er nahm seinen Stift zur Hand, begann aber noch nicht zu schreiben, dachte nach:
    In drei Tagen bin ich fertig mit meinem Bericht. Dann können sie kommen, die beiden Redakteure vom WOCHEN-JOURNAL. Vielleicht werden sie den Text etwas kürzen, aber auf jeden Fall bringen sie meinen Protest gegen das Depot noch einmal massiv unter die Leute. Sie werden offene Türen einrennen, denn die Diskussion ist ja schon in vollem Gange. Ich glaube, mein privates Schicksal tritt dann allmählich in den Hintergrund, doch das allgemeine Entsetzen über die Lagerung chemischer Waffen hier bei uns wird sich eher noch verstärken. Endlich zeigt man’s der Regierung! Gestern abend haben Tausende einen Ring um das Depot gezogen, haben eine riesige Menschenkette gebildet und die Vernichtung der Granaten gefordert. Vorgestern haben die Grünen im Bundestag den Antrag gestellt, das Thema »Wasloh« auf die Tagesordnung zu setzen, und sie sind von SPD und FDP darin unterstützt worden. Und dann die vielen Demonstrationen in fast allen Großstädten! Im Fernsehen wurden die Transparente gezeigt: »Wann kündigt Bonn den Wasloher Mietvertrag?« und »Raus mit McRonalds Giftküche!« Sogar das vermutlich bissigste aller Spruchbänder haben Millionen von Menschen auf dem Bildschirm gesehen: »Jedem sein Quentchen VX, und das Aids-Problem ist gelöst!« Ich will meine Rolle nicht beschönigen, aber vielleicht ist es mir ja doch gelungen, etwas in Gang zu setzen, was erst zur Ruhe kommt, wenn das Teufelszeug aus unserem Land verschwunden ist.
    Er setzte zum Schreiben an, da öffnete sich die Tür, und ein Mädchen kam herein. Erschrocken sprang er auf, hatte trotz der blonden Haare, die das Tuch nicht ganz verdeckte, und der veränderten Augenfarbe Nadine sofort erkannt. Das Gesicht, die zarte Gestalt, die Art, sich zu bewegen, die Hände, alles war ihm vertraut. Sie hatte ihren Korb auf dem Fußboden abgestellt, hielt die WALTHER auf ihn gerichtet.
    »Setz dich wieder hin!«
    Es geschah nicht aus Protest, daß er stehenblieb, sondern aus Verblüffung, einer Verblüffung, der sofort die Angst folgte.
    »Eins … zwei …« Sie zielte auf seine Brust.
    Er setzte sich.
»Nadine, das können Sie doch nicht machen!« »Sei still! Es wird ganz schnell gehen.«
»Aber warum?«
»Du hast uns zu Fall gebracht, hast den Kronzeugen gespielt.«
    Er nahm gar nicht in sich auf, daß sie ihn duzte, war nur mit der Gefahr befaßt, in der er schwebte. In ganz Europa suchte man nach dieser Frau, und daß sie sich dennoch hierhergewagt hatte, zeigte deutlich genug, wie ernst es ihr war.
»Nadine, wir sollten in Ruhe …«
»Sei still!« sagte sie noch einmal und trat nun dicht vor
    ihn hin, zog sich mit der Linken das schwarze Seidentuch vom Kopf, warf es auf den Tisch. »Binde dir das vor die Augen! Aber ohne Tricks! Ich werde prüfen, ob du sehen kannst!«
    »Aber wenn …« Er hörte, daß sie die Waffe entsicherte. Ihm blieb also keine Wahl. Er nahm das Tuch auf, wollte es sich um den Kopf binden, aber seine Hände zitterten zu sehr, und so fiel es ihm in den Schoß. Schnell griff er danach, legte es erneut vor die Augen, führte die beiden Enden nach hinten, machte den Knoten.
    Sie wischte mit der freien Hand durch die Luft, nur eine Fingerbreite an seinem Gesicht vorbei. Er zuckte nicht zurück.
    Sie zog den Schal vom Hals, wickelte ihn, wie sie es ausprobiert hatte, um die Waffe, warf einen Blick zum Fenster, sah, daß es geschlossen war. Dann schob sie die Pistole ganz dicht an seine Brust heran, berücksichtigte sogar die leichte Schräghaltung, die fast allen Selbstmördern, sofern sie sich fürs Herz entschieden haben, unterläuft, weil es ihnen nicht gelingt, sich die Hand mit der Waffe in einem Winkel von genau neunzig Grad auf die Brust zu setzen. Sie zielte sorgfältig, drückte ab.
    Tatsächlich wurde es kein sehr lauter Schuß. Da Golombek angelehnt auf seinem Stuhl gesessen hatte, kippte der Oberkörper nicht auf den Tisch, sank nur in sich zusammen, und das Kinn fiel auf das Schlüsselbein.
    Sie löste den Schal von der Waffe, warf ihn sich um den Hals, öffnete die Tür, sah den

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