1988 VX (SM)
Lemmert hatte den Eindruck, der lange Flur seiner Dienststelle wäre ein Schulkorridor, so lebhaft wieselte es dort von Tür zu Tür. Und kaum saß er an seinem Platz, da ging das Telefon. Er wurde zu einem Gespräch gebeten, das ein Stockwerk höher im kleinen Konferenzraum stattfand und zu dem einige Mitglieder des Krisenstabs zusammengekommen waren.
Also nahm er seine Kollegmappe, die er auf den Schreibtisch geworfen hatte, sofort wieder in die Hand und ging nach oben.
Er setzte sich zu der aus nur einem halben Dutzend Personen bestehenden Runde, hörte dem heftigen Disput zu, der zwischen seinem Chef, dem Kriminaldirektor Schattner, und einem ihm unbekannten, etwa vierzigjährigen Mann geführt wurde. Er wandte sich an den Kollegen, der neben ihm saß: »Mit wem streitet der Boss sich da herum?« Die Antwort lautete: »Mit John Buchner vom WESTKURIER.«
»… und ich sage Ihnen«, hörte Lemmert den aufgebrachten Zeitungsmann erklären, »die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, lückenlos informiert zu werden! Unsere Mitbürger müssen doch erfahren, daß da ein paar Chaoten mit einem tödlichen Giftgas durchs Land ziehen! Stellen Sie sich vor, die verspritzen ihr Zeug, und die Bevölkerung kippt reihenweise um, weil sie nicht gewarnt worden ist, obwohl Sie und die Leute in meiner Redaktion Bescheid wußten!«
»Nun hören Sie mir mal gut zu!« entgegnete Schattner. »Die Frage der Information überlassen Sie bitte uns! Warum sollen wir alle Menschen zwischen Flensburg und dem Bodensee in Panik versetzen, wenn wir genau wissen, daß es vorbeugende Maßnahmen so gut wie überhaupt nicht gibt? Oder wollen Sie eine totale Auswanderung empfehlen? Wohin denn? Nach Italien? Frankreich? Dänemark? Und was, wenn die beiden Granaten dann genau da hochgehen, wo die Leute in ihrer Kopflosigkeit hingerannt sind? Würden Sie dafür die Verantwortung übernehmen?«
Buchner schlug auf den Tisch. »Das ist doch eine mehr als alberne Hypothese! Außerdem: Was geschieht mit unserer Zeitung? Bei uns ging der Bekennerbrief ein, und uns hat man aufgefordert, ihn zu veröffentlichen. In vollem Wortlaut. Und für den Fall, daß wir es nicht tun, hat man uns Folgen angedroht. Böse Folgen. Wir wissen, mit welcher Brutalität die VITANOVA vorgeht. Jeden, der ihr im Weg war, hat sie beseitigt, ob Soldat oder Zivilist. Wenn wir einen wichtigen Teil des Briefes unterschlagen, werden wir das ausbaden müssen. Wie, dürfte klar sein. Oder vielmehr: Der Möglichkeiten sind viele! Vielleicht packen sie uns eine ihrer Granaten ins Foyer oder legen unsere Redakteure um, auf der Straße, zu Haus, im Tennisclub. Wenn wir den Brief nicht in vollem Umfang bringen, sind wir auf deren Abschußliste!«
»Es bleibt dabei: Sie bringen den Brief, lassen aber die Granaten-Stelle weg! Leider gibt es nicht die Möglichkeit, die Veröffentlichung der VX-Passage durch richterlichen Beschluß zu verbieten. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als an den Staatsbürger in Ihnen zu appellieren! Wenn Sie das VX erwähnen, tragen Sie die Verantwortung für das in der Bevölkerung entstehende Chaos.«
»Aber ohne den Hinweis auf die Granaten ergibt der Brief ja nicht mal einen Sinn!«
»Doch, denn vorher ist die Rede von einem gezielten Vorgehen gegen amerikanische Einrichtungen in der Bundesrepublik, vom Anschlag gegen das Wasloher Depot, von der Liquidierung der Soldaten und der Beschädigung von fünf Panzern. Also brauchen Sie bloß den letzten Passus wegzulassen. Und natürlich geben wir Ihrem Haus Polizeischutz.«
Buchner stand auf, sammelte mit fahrigen Bewegungen seine Papiere auf und zischte durch die Zähne: »Ach, lekken Sie mich doch am Arsch!« Dann ging er, aber da der Weg bis zur Tür einige Sekunden in Anspruch nahm, mußte er Schattners Kommentar noch mit anhören:
»Das würde der generellen Giftgasbedrohung eine singuläre hinzufügen, aber nichts ändern, denn ich bin ersetzbar.« Und auch Schattners Frage nahm er noch auf: »Also, sind wir uns einig?«
»Was bleibt mir anderes übrig!« Nach diesen Worten schloß der Mann vom WESTKURIER die Tür hinter sich.
»Jetzt kann’s endlich weitergehen!« Schattner atmete hörbar auf. »Lemmert, Sie sind eben erst gekommen, aber die Dienststelle hat Ihnen den Inhalt des GolombekTelefonats durchgegeben.«
»Ja.«
»Also wissen Sie darüber Bescheid. Dieser Anruf, meine Herren, spricht dafür, daß Golombek kein Mitglied der Terroristen-Vereinigung ist. Er hat uns wertvolle Hinweise gegeben.
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