1991 Atlantik Transfer (SM)
Mine ihre Reise ungehindert fortsetzen, und wenn ihr vorher nichts in die Quere kam, würde ihr weiterer Weg wahrscheinlich auf halber Strecke zwischen dem afrikanischen und dem südamerikanischen Kontinent entschieden werden. Dort nämlich, wo die Passatdrift sich gabelt, hatte sie die Chance, weiter auf die brasilianische oder guayanische Küste zuzutreiben und dann von der südlichen Variante dieser so mächtigen Meeresströmung in die Karibische Straße und schließlich in den Golf von Mexiko transportiert zu werden oder aber auf der nördlichen Route zu verbleiben, an den Antillen und an Florida vorbeizugleiten und später, an der Küste der USA, überzuwechseln in den nordwärts führenden Golfstrom.
Dann könnte sie – immer vorausgesetzt, sie kollidierte nicht und würde auch nicht entdeckt werden – den Nordatlantik diagonal überqueren, an Irland und Schottland vorbei in Richtung Spitzbergen schwimmen, vielleicht aber auch vorher nach rechts abbiegen und in einen der zahllosen Fjorde des norwegischen Festlandes einfahren. Sollte sie dort aus dem Wasser gefischt oder als Strandgut aufgefunden, also unversehrt geborgen werden, würden fachkundige Hände sie ausweiden. Ihr Deckel fände vielleicht in irgendeinem Vorgarten als Blumenschale Verwendung. Es wäre ein glückliches Ende ihrer langen Reise.
Doch einstweilen war sie noch unterwegs. Und sie war intakt.
2
»Mein Gott, sind wir braun!«
Sigrid Thaden kämmte sich vor dem Spiegel, der links neben der Kabinentür hing, und hatte nicht nur sich selbst, sondern im Hintergrund auch ihren Mann, Jacob Thaden, und den kleinen Arndt, die auf den Kojen saßen, im Blick. Breitbeinig, wie eine Bäuerin auf dem Kartoffelacker, stand sie da, versuchte sich auf diese Weise Halt zu geben, denn das Schiff schlingerte stark.
Es war Mitte Januar, und die drei machten eine Seereise. Jacob Thaden, sechsunddreißig Jahre alt und Inhaber einer im Norden Hamburgs gelegenen Baumschule und Gärtnerei, hatte sich für den Urlaub etwas Besonderes einfallen lassen: mit Frau und Kind auf einem Frachter den Atlantik zu überqueren.
Dreieinhalb Wochen sollte die Reise dauern; eine war schon herum.
Ein Flugzeug hatte sie nach Brasilien gebracht, und in Tubarao waren sie an Bord gegangen. Das Schiff, der sechsundzwanzigtausend Tonnen große Bulkcarrier MELLUM der Bremerhavener Reederei MAHRENHOLT & SÖHNE, befand sich jetzt auf der Fahrt nach Paramaribo in Guayana; von dort würde es nach kurzem Aufenthalt weitergehen nach Quebec und dann, wiederum nach nur kurzer Liegezeit, Richtung Rotterdam. Sie waren die einzigen Passagiere an Bord und hatten allen Grund, sich wohl zu fühlen. Tagsüber waren sie fast immer draußen, entweder achtern, wo die fünf Decks der MELLUM aufeinandergeschichtet waren und wo, auf der dritten Etage, auch das Schwimmbecken lag, oder vorn auf der Back, auf der sie ihre Sonnenbäder nehmen konnten, ohne daß die Geräusche der Maschine sie erreichten. Arndt dann stets bei Laune zu halten war nicht leicht, denn natürlich hatte er keine Lust, einfach nur in der Sonne zu liegen. Hin und wieder, wenn das Schiff ganz ruhig fuhr, gelangen ihnen im Windschutz des Schanzkleides Spiele wie MENSCH, ÄRGERE DICH NICHT, MEMORY oder MAU-MAU, zu denen Figuren und Würfel und Karten gehörten, lauter Dinge, die schon bei geringem Wind in Bewegung gerieten. Aber meistens mußten die Eltern sich reine Kopfspiele ausdenken: das Aufzählen von Pflanzen und Tieren mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben oder Rechenexempel, oder sie erzählten ganz einfach Geschichten. Der Vorrat an solchen Einfällen war nicht unerschöpflich, und darum freuten sie sich, wenn Kapitän Baumann den Jungen holte und ihn auf die Brücke oder aufs Peildeck mitnahm. Arndt liebte seine Eltern und war gern mit ihnen zusammen, aber an der Hand von Herrn Baumann auf Entdeckungsreise zu gehen war im Moment das Größere. Einen Vater und eine Mutter hatte schließlich jeder, aber wer hatte schon einen Kapitän ganz für sich?
Sigrid Thaden kontrollierte im Spiegel ihr Aussehen, war zufrieden. Das ärmellose Kleid aus hellem Leinen unterstrich ihre Bräune, ebenso wie ihr blondes Haar es tat. Seit dem Auslaufen aus Tubarao hatte sie auf jegliches Make-up verzichtet. Das täglich frisch ins Schwimmbecken gepumpte Atlantikwasser, die Sonne und der Seewind hatten ihrem Teint eine Beschaffenheit verliehen, an der nichts zu korrigieren war.
Auch Lippen- und Augenbrauenstift lagen seit Beginn der Seereise
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