1992 Das Theunissen-Testament (SM)
TRINIDAD, und sie fuhren nur zwischen Antofagasta und den Schäreninseln im Süden Chiles hin und her. Ihr Onkel hatte schon immer von einer Reederei mit Sitz in Hamburg geträumt, aber damit mußte er dann noch etliche Jahre warten, wegen des Krieges. Ja, und als der zu Ende war, sah es mit dem deutschen Standort noch immer schlecht aus, denn infolge des Potsdamer Abkommens von 1945 hatte Deutschland aufgehört, eine seefahrende Nation zu sein. Erst vier Jahre nach Kriegsende durften wir wieder Schiffe kaufen, bald darauf auch wieder selbst bauen. Da stieß Claas Theunissen die beiden Kümos ab, ebenso einen Teil seiner Aktien, und kaufte einen belgischen und einen norwegischen Frachter.«
»Er taufte sie auf die Namen seiner Eltern, Maynhard und Gesine Theunissen, um«, sagte Olaf.
»Ja«, erwiderte Krogmann, »und im Laufe der Jahre brachte er fast die gesamte Sippe in seinem Schiffsbestand unter, Katharina, Luise, Paul, Rasmus Theunissen und so weiter.«
»Also ging es steil nach oben«, sagte John.
Krogmann nickte, schränkte dann aber seine Zustimmung ein: »Rückschläge gab es auch. Die KATHARINA geriet 1965 bei Kap Finisterre in einen schweren Sturm und sank. Zum Glück konnte die Besatzung gerettet werden. Nur drei Monate später trieb die LUISE THEUNISSEN manövrierunfähig auf die norwegische Küste zu, wurde gegen ein Riff geworfen und zerbrach. Ein Leichtmatrose kam ums Leben. Zu der Zeit hatte Ihr Onkel außer mit diesen beiden Totalverlusten auch noch mit verschärften Wettbewerbsbedingungen zu tun, aber er kämpfte sich durch, vercharterte einige seiner Schiffe nach den USA, ließ Neubauten vom Stapel laufen, und Mitte der siebziger Jahre war seine Flotte auf vierzehn Einheiten mit einer Gesamt-Tonnage von neunzigtausend Tonnen angewachsen. Wie Sie wissen, zählt die Reederei heute zu den größten privaten Schifffahrtsunternehmen Europas.«
»Und es blieb ja nicht bei den Schiffen«, sagte John. Wieder nickte Krogmann. »Stimmt. Er hat noch mehr hinterlassen, sein schönes Haus in Valparaiso, den Rancho im Süden Chiles, den Besitz an der Eibchaussee, den Haubarg in Eiderstedt, dazu die Aktien. Sie sehen, der Wettkampf lohnt sich.«
Die Prokuristen Thormeier und Wessel traten ein, breiteten fast ein Dutzend dicker Akten auf dem Schreibtisch aus, begannen mit ihren Erläuterungen.
Es war schon später Abend, als John und Olaf sich verabschiedeten. Das kleine Wegstück bis zu den Autos gingen sie zusammen. Aber noch stiegen sie nicht ein. John war es, der an einen anderen Wettkampf erinnerte, der vor langer Zeit stattgefunden hatte:
»Weißt du noch? Damals? Als es um Großvaters Uhr ging?« Sofort war auch bei Olaf die alte Geschichte wieder präsent. Er war vierzehn, John fast sechzehn Jahre alt. Sie verbrachten ihre Ferien in dem alten Eiderstedter Bauernhaus. Sein riesiges Reetdach war ihnen immer wie eine schützende Haube vorgekommen, die sie nicht nur gegen übles Wetter abschirmte, sondern auch gegen die in ihren Hamburger Elternhäusern nicht gerade selten auftretenden Zwistigkeiten. Eines Tages forderte der Großvater beide, die auf dem Hof so manchen bäuerlichen Handgriff erlernt hatten, auf, einen Wettkampf auszutragen. Es war die Zeit der Schafschur, und nun sollten die Enkel ihre Fähigkeiten bei der Wollgewinnung unter Beweis stellen. Jeder hatte ein Schaf zu scheren, und wer zuerst fertig war, würde als Preis Großvaters Taschenuhr bekommen. Der Alte stand am Gatter, in der Hand das kostbare Stück.
Und los ging’s, zunächst mit dem Fesseln. Jeder schnürte seinem Tier die Vorderbeine zusammen und band dann noch eins der Hinterbeine mit ein, wie sie es gelernt hatten. Dann wurde das Schaf auf den Rücken gelegt, denn die Schur würde am Bauch beginnen. Sie hatten keine modernen, elektrisch betriebenen Schneidegeräte, sondern nur die alten, aus einem einzigen Metallstück hergestellten Scheren, die sie allerdings vorher am Schleifstein gewetzt hatten. Sie fingen an zu schneiden, und die Wolle stob nur so von ihren flinken Händen. Olaf machte das Rennen. Er brauchte sechzehn Minuten, John siebzehneinhalb. Doch der Großvater war ebenso sorgsam wie unerbittlich. Olaf wurde schon nach kurzer Inspektion disqualifiziert, weil es am Bauch seines Schafes eine winzige Blutspur gab. Er war in seinen Bewegungen zu fahrig gewesen, hatte in der Eile das Tier angeritzt. Die schöne Taschenuhr erhielt John, und selbstverständlich fand Olaf die Entscheidung gerecht, hatte es doch geheißen.
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