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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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vielleicht ganz gut, daß Sie gekommen sind. Aber zugleich ist es irgendwie schlecht, finde ich, denn solche Reisen …«, sie zeigte auf ihren Bruder, »sind auch nicht grad das Wahre. Falls er noch mal Geld von Ihnen kriegen sollte, geben Sie es besser mir. Ich teil’ es ihm dann in vernünftigen Raten zu.« Sie schloß die Tür wieder.
    »Ich würde«, sagte er, »Ihnen ja gern ein paar Scheine hierlassen, aber dafür brauche ich eine Gegenleistung, und die kann nur von ihm kommen.«
    »Und wie soll die aussehen?«
    »Es geht noch einmal um meinen Sohn, der in der Haft gestorben ist.«
    »Ja, darüber weiß natürlich nur er was. Versuchen Sie’s noch mal heut’ nachmittag gegen vier Uhr!«
    »Gut.«
    Schon in der Wohnungstür, drehte er sich wieder um und fragte: »Können Sie denn gar nichts dagegen machen? Ich meine, daß er ständig trinkt.«
»Wissen Sie, mein Mann ist nicht da, weil er im Westen arbeiten muß, und allein schaff ich das nicht. Aber es hat auch sein Gutes, das Trinken, weil Georg dann für ein paar Stunden friedlich ist. Ja, ohne seinen Schnaps kommt er mit dem Leben nicht mehr zurecht.«
»Ich verstehe.« Er nickte ihr noch einmal zu und ging langsam die Treppe hinunter.
Im Hotelzimmer zog er die Schuhe aus und legte sich aufs Bett, dachte an den Mann, der sich auf so billige Weise davonmachte, weil er die teure nicht bezahlen konnte. Zwei, drei Stunden noch, dann würde er zurück sein von seiner Reise ins Vergessen. Was mochte er getan haben? Nach seiner Darstellung war er doch nur ein kleiner Fisch gewesen! Vielleicht hatte er die Gefangenen manchmal um ein paar Löffel Suppe betrogen oder um einen Kanten Brot. Oder er hatte ihre Ohnmacht ausgenutzt, hatte ihre Pakete, wenn sie denn welche bekamen, durchsucht und Kostbarkeiten wie Zigaretten und Schokolade nur gegen Bares rausgerückt.
Er griff nach der Zeitung, die er sich an der Rezeption gekauft hatte. Jeden Tag bekam man DDR-Geschichten zu lesen, und fast immer ging es darin um Schuld, und das hieß in der Regel, um Täter und Opfer. In letzter Zeit aber las man auch Berichte über neue Täter und neue Opfer, über rabiate Westler, die die Ostler das Fürchten lehrten, so daß sie sich zurücksehnten nach ihrem bescheidenen Nischendasein.
Er stieß auf eine Notiz über die im Osten drastisch angestiegene Kriminalität, rund siebenhundert Straftaten pro Jahr vor der Wende gegenüber Tausenden jetzt. Klar, dachte er, ein Volk, das so geknechtet wurde, konnte es wohl grad mal auf siebenhundert bringen. Den riesigen Rest besorgten ja die anderen, die, die zu bestimmen hatten. Nur daß deren Verbrechen nicht zählten. Ein Scheiß-Staat, der erst die Grenzen dichtmacht und dann seine Leute mit dem Knüppel regiert!
Er las ein anderes Stück aus dem schier unerschöpflichen Repertoire des DDR-Unrechts. Von brutalen Übergriffen auf Gefängnisinsassen war da die Rede, von Folterungen und sogar davon, daß man Abgase in die Zellen geleitet hatte. Das Zyklon B der Nazis fiel ihm ein. Das, dachte er, wird es nicht gewesen sein, aber sie waren offenbar verdammt nah dran an deren teuflischen Methoden. Tilmann kam ihm in den Sinn, und er fragte sich, wo sie ihn begraben haben mochten. Da sein Tod, so überlegte er, verschwiegen wurde und man kaltschnäuzig einen Gefängnisausbruch ins Register schrieb, werde ich sein Grab wohl nie finden.
Er stand auf, wollte durch die Straßen laufen, bis Schöller seinen Rausch ausgeschlafen hatte.
Aber weil es die Straßen seiner Stadt waren, handelte er sich mit seinem Weg viel Trauer ein. Da waren Läden, vor denen Maria und Tilmann Schlange gestanden hatten. Da war die Kreuzung, auf der der Junge mit seinem Fahrrad gestürzt war. Zum Glück hatte es nur ein paar blaue Flecken gegeben.
Fast jede Straßenecke schmerzte ihn auf irgendeine Weise, weil sie ein Platz der Erinnerung war.

7
    Ein zweites Mal das Treppenhaus mit den Platzwunden an den Wänden und dem Geruch nach Essen, Schweiß und Bohnerwachs. Der dritte Stock. Er klingelte. Wieder öffnete die Frau. Diesmal ging die Tür gleich ganz auf.
    »Ist er jetzt wach?«
Sie nickte. »Ich hab’ mit Kaffee nachgeholfen.«
Sie ließ ihn herein. Im Wohnzimmer setzte er sich an den Tisch, so als gehörte er zur Familie.
»Ich hole ihn.«
Es dauerte eine Weile, und er sah sich inzwischen um, entdeckte auf einer Kommode ein halbes Dutzend Fotos in Standrahmen, unter den abgebildeten Personen auch die Hausfrau, einmal im Sonntagskleid und sorgfältig frisiert,

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