Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
Vom Netzwerk:
einmal innerhalb einer Gruppe vor einem Gartenhäuschen. Auf einem anderen Foto erkannte er ihren Bruder. Ein Bild in Postkartengröße, Querformat, zeigte ein altes Ehepaar. Kleidung und Gesichter deuteten auf bäuerliche Herkunft hin. Die freundlichen, faltenreichen Gesichter gefielen ihm.
Die Aufnahmen stehen da wie auf einem Altar, dachte er, fand es rührend.
Ein etwa dreißig mal vierzig Zentimeter großes Bild hing an der Wand. Es zeigte einen Unteroffizier der deutschen Wehrmacht. Am unteren Rand des hölzernen Rahmens verliefen, schräg über die beiden Ecken gezogen, zwei Bänder, links ein schwarzes und rechts das schwarz-weiß-rote Ordensband des Eisernen Kreuzes, beide schon leicht verblichen.
Die Frau kam allein zurück, und weil er nett zu ihr sein wollte, erkundigte er sich nach dem Soldatenbild.
»Mein Schwiegervater«, antwortete sie. »Er fiel in den letzten Kriegstagen bei den Kämpfen um Berlin. Den ganzen Krieg hat er mitgemacht, vom ersten Tag im Polenfeldzug bis zum Zusammenbruch. Und kurz vor Schluß schlägt ausgerechnet da, wo er steht, eine russische Panzergranate ein. Sein Kamerad, der neben ihm stand, wurde schwer verletzt, aber sie haben ihn wieder hingekriegt, er lebt heute noch. Warum müssen sich die Menschen immer gegenseitig umbringen?«
Er wußte darauf keine Antwort, aber ihre Worte hatten auch weniger nach einer Frage als nach einer Klage geklungen.
Die Tür öffnete sich, und der Bruder kam herein. Kämmerer stand auf und gab ihm die Hand. Sie setzten sich zu dritt an den Tisch.
Schöller hatte sich gewaschen, rasiert, ein frisches Hemd angezogen. Sein Haar war naß. Er erinnerte kaum noch an den maroden Mann, der da im Nebenzimmer auf dem Sofa gelegen hatte.
Kämmerer wollte sich nicht mit Vorreden aufhalten, fragte daher sofort:
»Wo finde ich den Major Kopjella?«
»Alles, was ich weiß, hab’ ich Ihnen gesagt. Tut mir leid, daß Sie diesmal für nichts hier sind. Ich würd’ Ihnen ja gern noch was erzählen, schon wegen der Bezahlung, aber Sie können mich schütteln und rütteln, da kommt nichts mehr raus aus meinem Kopf, weil da nämlich nichts mehr drin ist.«
»Manchmal«, antwortete Kämmerer, »weiß jemand was Wichtiges, aber weil er nicht weiß, daß es wichtig ist, spricht er es nicht aus. Ich möchte, daß wir noch einmal in Ihrer Vergangenheit stöbern. Vielleicht tritt irgend etwas zutage, von dem Sie gedacht haben, es bedeutet nichts, und in Wirklichkeit enthält es für mich einen Fingerzeig.«
Die Frau erbot sich, Kaffee zu kochen. Ihr Bruder meinte, damit habe sie ihn doch grad eben traktiert, er hätte lieber ein Bier. Aber sie sagte:
»Soweit kommt es noch! Kaum hab’ ich dich einigermaßen senkrecht, schon schreist du wieder nach Bier. Ausgeschlossen!«
Kaffee wollte Schöller nicht, und auch Kämmerer lehnte ab.
»Wie oft«, fragte er, »haben Sie meinen Sohn überhaupt zu Gesicht bekommen?«
Die Antwort erfolgte nicht spontan. Schöller überlegte sogar auffallend lange und erklärte dann: »Also, erst mal müssen Sie wissen, daß ich nur fünf Monate im selben Block war wie er. Vorher war ich in Bautzen, und dann wurde ich nach Berlin verlegt. Ins Jugendgefängnis. Da gehörte ich vom Alter her natürlich nicht hin, aber es war ja auch eine Art Aufsichtsposten, den man mir verpaßt hatte. Ich sah ihn oft, Ihren Tilmann, bei der Essensausgabe zum Beispiel und beim Appell, beim Postempfang, bei der Einteilung zur Arbeit und so weiter. Gesprochen hab’ ich nur fünf-, sechsmal mit ihm. Ich weiß noch, einmal ging es dabei um seine Schuhe. Er meuterte, weil man ihm ein Paar gegeben hatte, bei dem der eine Schuh kaputt war. Die Sohle war durch. Ich hätte ihm auf jeden Fall ein anderes Paar gegeben, aber das war nicht meine Sache. Ich hatte nur die Liste zu führen. Ich weiß noch, daß er zuletzt den Finger in das Loch steckte und alle zum Lachen brachte, sogar den Mann an der Ausgabe. Und ich hör’ auch noch, wie er herzzerreißend weinte, als Show natürlich, und dann herumjammerte: ›O Sohle mio …‹«
Obwohl es sich allem Anschein nach um eine lustige kleine Szene gehandelt hatte und Kämmerer, aus Höflichkeit, in das Lachen der Geschwister einfiel, krampfte sich ihm das Herz zusammen. Ja, so war Tilmann gewesen, er hatte Wortspiele geliebt und mit ihnen seine Witze gemacht.
»Einmal«, fuhr Schöller dann fort, »hab’ ich mich mit ihm und noch einem Häftling, Klawitter hieß der, mindestens ’ne Viertelstunde lang unterhalten. Auf dem

Weitere Kostenlose Bücher