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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Hof. Beim Rundgang. Eigentlich war da das Sprechen verboten, aber an diesem Morgen war das Aufsichtspersonal mehr mit sich selbst beschäftigt. Wahrscheinlich …«
»Was waren Sie nun eigentlich, Häftling oder Wärter?«
»Ich war beides. Bei guter Führung kriegten die Gefangenen ja irgendwelche Posten. Na, und ich hab’ mich nun mal gut geführt. Das war ja auch klüger.«
Einmal mehr fragte Kämmerer sich, warum Schöller gesessen hatte. Daß politische Gründe dazu geführt hatten, erschien ihm immer zweifelhafter.
»Also, die Wärter, die amtlichen, waren mit sich selbst beschäftigt und achteten nicht auf uns. Wahrscheinlich hatten sie wieder mal ein Rundschreiben gekriegt und quatschten nun darüber. Alle paar Monate kamen nämlich neue Bestimmungen raus, meistens idiotische, und wir, die Gefangenen, kriegten das mit, sobald sie angewendet wurden. Kürzung der Essensration zum Beispiel, eine Änderung der Paketordnung, daß man sich plötzlich keine Mettwurst mehr schicken lassen durfte oder nur noch in Scheiben, oder es ging um die Zeitungen oder um den Haarschnitt oder was weiß ich. Sie paßten jedenfalls nicht auf, und wir konnten mal so richtig reden. Ich weiß auch noch die Themen, weil es nämlich immer dieselben waren. Thema Nummer eins war die Entlassung. Ich glaub’, das ist in allen Gefängnissen der Welt so, jedenfalls für diejenigen, die nicht lebenslänglich haben. Thema Nummer zwei war das Essen, aber es ging nicht nur um den Gefängnisfraß, sondern oft auch um das, was man essen würde, wenn man draußen wäre, oder um all die Sachen, die einem die Frau oder die Mutter gekocht hatte, damals, als man noch frei war. Einer hatte es mit der roten Grütze, aber nicht irgendeiner, sondern mit genau der, die seine Mutter auf den Tisch brachte, mit Apfelstücken drin. Ein anderer schwor auf Petersilienkartoffeln in ’ner ganz besonderen Mehlschwitze. Sie glauben gar nicht, wie da die einfachsten Gerichte zu wahren Schlemmerspeisen wurden.«
»Doch«, antwortete Kämmerer, »das glaube ich. In so einem Essen ist dann alles mit drin, was zur Freiheit gehört, das Zuhause, die Nähe der Frau, der Eltern, der Geschwister, das eigene Bett. Alles das läßt sich herausschmecken aus der roten Grütze, so, wie die Mutter sie zubereitet hat.«
»Genauso war es. Na, und das Thema Nummer drei waren die Frauen. Bei den Soldaten steht es an erster Stelle, aber im Gefängnis verschieben sich die Dinge.«
»Worüber haben Sie denn nun gesprochen, als Sie mit Tilmann und dem anderen Häftling auf dem Hof zusammen waren?«
»Über die Entlassung natürlich. Ihr Junge meinte, er wäre schlecht dran, weil seine Mutter nicht mehr lebte und sein Vater sich in den Westen abgesetzt hatte, es also draußen keine Leute mehr gab, die seine Sache vorantreiben konnten. Bei mir haben ja meine Schwester und mein Schwager immer wieder was unternommen und …«
»Mein Gott«, fiel die Frau ihm ins Wort, »wie haben wir uns die Füße wundgelaufen und den Mund fusselig geredet! Andauernd waren wir beim Anwalt.«
»Und der Klawitter«, fuhr Schöller fort, »sagte, daß er unschuldig wäre und nur durch einen Irrtum im Knast säße. Aber das behaupteten viele.«
»Warum hat man Sie eingesperrt?«
»Mich?« Schöller hob beide Hände, wohl um anzudeuten, wie absurd es seiner Meinung nach gewesen sei, daß man ihn hinter Gitter gebracht hatte. Und dann sprudelte es auch schon, fast auswendig gelernt, aus ihm heraus:
»Ich war unvorsichtig, hab’ mich zu weit vorgewagt und über die SED gemeckert. Es passierte auf einem Betriebsfest, und ich war … , also, ich hatte schon ein bißchen getrunken, und der Alkohol löst ja bekanntlich die Zunge. Sie kriegten alle ihr Fett ab, die Bonzen, und leider ging das auch in ein Paar Ohren, für die es nicht bestimmt war. Drei Tage später holte man mich ab.«
Das muß, dachte Kämmerer, nicht stimmen, aber er faßte nicht nach, sondern bat: »Erzählen Sie mir von meinem Jungen! Wenn’s was ist, was mich wirklich weiterbringt, bin ich bereit, Sie gut zu bezahlen.«
»Wieviel?«
»Das kommt drauf an.« Kämmerer zog ein Bündel Geld aus seiner Hosentasche. Es waren mehrere Tausender und Fünfhunderter, einmal gefaltet. Er fächerte sie auseinander, und Schöller wie auch seiner Schwester gingen die Augen über, als das Rund, wie ein Spielkartenblatt, immer größer wurde.
»Sag es!« Die Schwester zischte ihre Aufforderung durch die Zähne, und dann wurde sie deutlicher: »Los, sag es ihm!

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