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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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überdeutlich. Wenn noch vor einer Stunde intakte Fahrbahnen und gepflegte Ortschaften das Bild bestimmt hatten, so waren es nun brüchige Straßen und ausgezehrte Gebäude, die sich seinen Blicken darboten. Früher, als er hier lebte, hatte er für derartige Vergleiche kein Maß gehabt und sie daher auch niemals gezogen.
    Ihm fielen die Krähen auf, die links wie rechts in großer Zahl auf Bäumen, Hausdächern und Telegraphendrähten saßen. Der Anblick hatte etwas Düsteres, erinnerte an Geier, die das Ende einer Agonie abwarten, um dann Mahlzeit halten zu können. Obwohl die schwarzen Vögel träge, ja, fast unbeweglich auf ihren Plätzen hockten, wirkten sie bedrohlich.
    Ein geschlagenes Land! dachte er. Die hier das Sagen hatten, haben es verkommen lassen, mehr noch, sie haben es ruiniert. Mit allen Mitteln erweckten sie den Eindruck einer funktionierenden Wirtschaft und hintergingen so die eigenen Leute und das Ausland jahrzehntelang. In den Betrieben wurden das Soll und das Übersoll propagiert, die Schiffe führten Namen wie VORWÄRTS und BEREITSCHAFT und VÖLKERFREUNDSCHAFT, und den Werktätigen wurde mit Verdienstmedaillen und heroisierenden Titeln der Blick verstellt auf die wahre Beschaffenheit ihres Staates, der, wie sich jetzt erwiesen hat, längst am Ende war. Und zum wirtschaftlichen Ruin kam der moralische. Ein ganzes Volk wurde in Knechschaft gehalten und überwacht vom mächtigen Ministerium für Staatssicherheit mit seinem Heer von Spitzeln. Während die Kopfzahl der Kontrollierten konstant blieb, wuchs die der Kontrolleure beständig an. Waren es 1974 noch rund fünfundfünfzigtausend, die mit Argusaugen die Bürger ausspähten, so waren es zehn Jahre später schon fünfundachtzigtausend und zum Zeitpunkt der Wende an die hunderttausend. Man konnte es sich nicht mehr leisten, seinem Nachbarn, ja, seinem Freund zu trauen. Und wehe, man geriet in die Schußlinie! Die gab es nicht nur am Zaun und an der Mauer, die gab es im eigenen Wohnblock, am Arbeitsplatz, in der Kneipe. Es gab sie überall.
    Er brauchte für die Fahrt länger als erwartet, denn kurz hinter Magdeburg geriet er in einen Verkehrsstau, der, wie sich herausstellte, durch einen schweren Unfall verursacht worden war. Von einem Polizisten dirigiert, drückten die Fahrer sich im Schrittempo an den beiden ineinander verkeilten Autos vorbei. Er sah die Ambulanz und zwei Sanitäter. Am Straßenrand lag ein Mensch, über den man eine Decke gebreitet hatte.
    Wahrscheinlich auch ein Opfer der Wende, dachte er, unsere Jungens können mit dem Westspielzeug noch nicht umgehen. Ihm fiel ein geläufiges und sehr bissiges Urteil über die Südamerikaner ein, nach dem sie vom Kaktus in den Cadillac gesprungen seien. Ganz so kraß ist es hier nicht, dachte er, aber wer jahrelang einen Trabi unterm Hintern gehabt hat, sitzt, wenn’s dann plötzlich hundert PS sind, nicht mehr in einem Auto, sondern in einer Rakete, und da fehlen ihm natürlich ein paar Flugstunden.
    Mittags kam er in Halle an. Er nahm in der Innenstadt ein Hotelzimmer, packte seine Sachen aus und machte sich sofort auf den Weg, ging zu Fuß.
    Schon nach zehn Minuten hatte er das große graue Mietshaus erreicht, in dem die Schwester von Georg Schöller wohnte. Mit ihrer Hilfe würde er ihn wiederfinden, jedenfalls waren sie beim ersten Treffen so verblieben.
    Er stieg die vielen Treppenstufen empor, drückte auf den Klingelknopf, wartete, hörte dann Schritte. Gleich darauf wurde geöffnet. Die Tür ging aber nur ein kleines Stück auf. Durch den Spalt sah er eine Frau mittleren Alters. Ihr Gesicht verriet ängstliches Mißtrauen.
    »Guten Tag«, sagte er, »mein Name ist Kämmerer. Ich habe kürzlich mit Ihrem Bruder gesprochen. Sie sind doch die Schwester von Herrn Schöller?«
    »Ja, das stimmt.«
    »Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«
    Er durfte eintreten.
    »Georg ist weg«, bekam er zu hören, »aber nicht so weit, wie Sie vielleicht denken. Kommen Sie!«
    Sie ging voraus, öffnete am Ende des Flurs eine Tür und trat dann zur Seite, so daß er ins Zimmer sehen konnte. Da lag er, sein Informant, ausgestreckt auf dem Sofa. Auf einem kleinen Tisch daneben stand die Flasche. Etwa zwei Fingerbreit waren noch drin. Das Glas stand auch da. Er hörte den Mann schnarchen.
    »Er kann sich«, sagte die Frau, »immer nur die kleine Reise erlauben. Nicht die nach Mexiko oder Rio. Nur die kleine. Die aber jeden Tag. Das heißt, bald hat er nicht mal mehr dafür Geld, und darum ist es

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