1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
nicht verschreiben, auch wenn man sie für noch so gut hält, denn nichts schützt vor der Gefahr, daß sie morgen zu einer schlechten wird.«
»Das sehe ich anders. Ich meine, wir dürfen uns durchaus einer Sache verschreiben. Natürlich müssen wir vorher prüfen, ob sie gut ist. Wenn ja, steht unserem Engagement nichts im Wege. Wenn dann wider Erwarten morgen Leute daherkommen und versuchen, sie Schlechtzureden, müssen wir uns mit allen Mitteln dagegen wehren. Ist das öffentlich nicht mehr möglich, müssen wir ins Exil gehen und unsere gute Überzeugung mitnehmen. Mensch, Fehrkamp, in wie vielen Köpfen unserer siebzehn Millionen DDR-Bürger hat sich schon jetzt, so kurze Zeit nach der ersten, die zweite Wende vollzogen! Wieder zurück zum alten! Weil sie eingesehen haben, wie beschissen die neue Lage ist. Ich war kürzlich in Berlin. Bahnhof Zoo. Da laufen unsere Kinder herum und verkaufen sich, haben Tag für Tag nur ein einziges Ziel, sich zu benebeln! Und dafür brauchen sie Geld. Jetzt sag mir nicht, der Bahnhof Zoo gehört und gehörte zum Westen. Das weiß ich. Aber es sind zu einem großen Teil unsere Ostkinder, die da stehen. Mädchen und Jungen. Dreizehn, vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Jedem geilen Bock, der mit seinem Geld wedelt, halten sie ihre kleinen Hintern hin. Sie wollen nicht mehr nach Haus, weil ihr Zuhause kaputt ist. Und warum ist es kaputt? Weil die Eltern arbeitslos sind und sich darum auch benebeln wollen und dann zur Flasche greifen und sich ständig in den Haaren liegen. Das hält auf die Dauer kein Jugendlicher aus. Also haut er ab. Fürwahr ein trauriger Zusammenhang, desolates Elternhaus – Flucht auf die Straße – Hasch, Koks, Heroin – und weil das Geld kostet, Diebstahl und Prostitution. Summa summarum, das absolute Elend. Das hat es zu unserer Zeit nicht gegeben. In den Läden war zwar wenig Auswahl, und die Leute hatten keine dicken Autos, und es grinsten sie auch nicht von jedem Obststand her die blöden Bananen an, aber sie hatten ihre Arbeit, hatten ihr Auskommen, konnten ihre Miete bezahlen und kamen über die Runden. Und ihre Kinder waren gut aufgehoben, in den Kindertagesstätten, in den Schulen, bei den Jungen Pionieren und bei der FDJ. Jetzt verkaufen sie ihren Körper, und in zwei Jahren ist der vom Drogenkonsum so ausgemergelt, daß ihn niemand mehr haben will. Die …«
Das Telefon klingelte.
Sie sahen sich an.
»Denk an Angelika«, sagte Kopjella, »und an deine Enkelkinder!«
Fehrkamp griff nach einer der beiden Krücken, stand unter Mühen auf und ging zum Schreibtisch, setzte sich aber nicht. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Und dann ging es los, lief ohne Stocken ab, ganz so, wie das teuflische Drehbuch es vorschrieb:
»Nett, daß Sie trotz der späten Stunde noch anrufen, Dr. Niklas! Ich muß Sie bitten, meinen bei Ihnen hinterlegten Umschlag aus Ihrer Kanzlei zu holen und mir zu bringen, jetzt sofort. Ich selbst kann nicht kommen, bin krank und liege im Bett. Ich brauche die Unterlagen unbedingt in dieser Nacht. Ein Kollege von mir hat sich angemeldet, und wir müssen die Dokumente noch einmal gemeinsam durchgehen. Morgen früh fährt der Mann weiter. Manches muß korrigiert, manches ergänzt werden. Wirklich, ich würde Sie mit der Sache nicht behelligen, wenn sie nicht so enorm wichtig wäre. Ich zahle Ihnen ohne Wenn und Aber und ohne Quittung ein Honorar von, sagen wir, tausend Mark, bar auf die Hand.«
Wieder hatte Kopjella sich neben Fehrkamp gestellt, und nun rückte er noch näher heran, hielt sein Ohr dicht an die Muschel, konnte die Antwort deutlich hören:
»Da bin ich ja wohl in die Rolle eines Notarztes gerutscht. Eigentlich gibt es bei uns Juristen keinen Nachtdienst, aber wenn es so dringend ist, wie Sie sagen, komm’ ich gern. Und natürlich knöpfe ich Ihnen keine tausend Mark ab. Bleiben wir auch da bei der NotarztVersion! Ich glaub’, der würde Sie höchstens dreihundert kosten. Das können Sie mir dann irgendwann überweisen. Also, gegen halb eins bin ich bei Ihnen.«
Fehrkamp bedankte sich und legte auf.
»Siehst du, es klappt doch wunderbar«, sagte Kopjella und setzte sich wieder.
»Wenn du das Ding dann hast«, meinte Fehrkamp, nachdem er sich zu seinem Sessel geschleppt hatte, »ist es ja wohl überflüssig, mich umzubringen.«
»Wer garantiert uns, daß du nicht morgen ein neues Dossier zusammenstellst und es irgendwo deponierst?«
»Ich hätte viel zuviel Angst um meine Tochter und ihre Familie.«
»Das ist ein
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