1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
bekleidet und also vermutlich zu den Linientreuen gehört hatten. Mit ihnen zu reden, hatte im Grunde wenig Sinn gehabt, denn wer damals Informant gewesen war, konnte es heute nicht mehr sein, jedenfalls nicht in verläßlicher Weise.
Zweimal hatte er auch Tilmanns Schule besucht und dort mit seinen Lehrern zusammengesessen, und jetzt fiel ihm ein, daß Dr. Keller, der Mathematiklehrer, beide Male nicht dabeigewesen war. Zu jener Zeit hatte er sich gesagt. Acht Lehrer müssen genügen. Der eine abwesende war ihm nicht so wichtig erschienen, zumindest nicht als jemand, der mehr hatte wissen können als seine Kollegen. Diese Einschätzung änderte sich plötzlich. Während er die gebrauchte Wäsche zusammenrollte und in den Koffer legte, dachte er. Wenn ich die Linientreuen von einst als unbrauchbare Informanten einstufe, muß ich mich an diejenigen halten, die der Regierung kritisch gegenüberstanden, und soweit ich mich erinnere, war das bei Keller der Fall.
Er schloß den Koffer, griff nach dem Telefonbuch, suchte die Nummer des Lehrers heraus, wählte. Eine Männerstimme nannte den Namen Keller. Er entschuldigte sich, sagte, er habe sich vertan, legte auf. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß der Vorwand, Ungelegen zu sein, am Telefon eher benutzt wurde, als wenn man schon in der Tür stand, und er wollte nicht abgewiesen werden.
Er rief die Rezeption an, verlängerte seinen Aufenthalt um einen Tag. Danach sah er sich den Stadtplan an. Die Straße, in der der Mann laut Telefonbuch wohnte, hatte er schnell gefunden. Er verließ das Hotel, setzte sich ins Auto und fuhr los.
Es ging zum südlichen Stadtrand. Nach zwanzig Minuten hielt er vor dem ockerfarben verputzten Reihenhaus, zu dem ein schmaler gepflegter Vorgarten gehörte. Er ging durch die Pforte, trat an die Tür, klingelte.
Der Mann, der ihm öffnete, war in der Tat Tilmanns Lehrer, doch schien er in den wenigen Jahren stark gealtert zu sein. Graues, schütteres Haar; ein bleiches Gesicht mit tiefen Furchen, müde Augen.
»Guten Tag! Herr Dr. Keller?«
»Ja, der bin ich. Was wünschen Sie?«
»Bitte, entschuldigen Sie die Störung! Mein Name ist
Kämmerer. Ich komme aus Hamburg und suche nach Personen, die mit meinem Sohn Tilmann zu tun hatten. Sie waren in den Jahren 1987 und 1988 sein Mathematiklehrer.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Ein aufgeweckter Junge.«
»Darf ich Sie, obwohl unangemeldet, mit ein paar Fragen behelligen?«
»Kommen Sie rein! Sie müssen entschuldigen, ich bin ein bißchen langsam auf den Beinen. Man hat mich vor drei Wochen operiert. Aber das ist für uns kein Thema.«
»Ich hoffe, Sie haben alles gut überstanden.«
»Kein Thema«, wiederholte Keller.
Über einen kleinen Flur gelangten sie in ein Zimmer, dessen Wände fast überall durch Bücher verstellt waren. Die Regale reichten bis an die Decke. Sie setzten sich.
»Ein schöner Raum«, sagte Kämmerer. »Bücher schaffen eine gute Atmosphäre.«
Keller lächelte. »Jetzt wieder, ja, weil wir nun jeden Titel bekommen können, den wir haben wollen. Gleich nach der Wende hab’ ich ausgemistet, und seitdem fülle ich die Lücken mit Werken, die bei uns auf der schwarzen Liste standen. Auf der stand ich selbst übrigens auch, weil ich zu behaupten wagte, es gebe keine sozialistische Mathematik. Oder so ähnlich. Jedenfalls hab’ ich mich immer über unsere Lehrbücher geärgert, weil fast nur Aufgaben drin waren, in denen es um Planerfüllungszahlen oder sonstige schwindelerregende Leistungen der Republik ging. Wehe, man dachte sich mal selbst eine Aufgabe aus, meinetwegen die Berechnung eines Gewindes, und es handelte sich dann nicht um eine sozialistische Schraube! Na, Sie wissen ja selbst, wie es war. Ich bin nur froh, daß ich nicht Deutsch- oder Geschichtslehrer geworden bin, dann hätte ich meine Magengeschwüre unter Garantie schon zehn Jahre früher gehabt.«
»In der Zeitung«, unterbrach Kämmerer den verbitterten Bericht, »stand damals nur eine kurze Notiz über unsere Flucht in den Westen.«
»Das paßt ins Bild. War denen höchst unangenehm, daß so viele der DDR den Rücken kehren wollten. Wie geht’s dem Tilmann denn jetzt? Er war ein bemerkenswerter Schüler, nicht immer leicht zu nehmen, weil er seinen eigenen Kopf hatte, aber gerade das machte ihn zu einem Jungen, wie man ihn als Lehrer gern vor sich hat und wie er auch für die Klasse eine Bereicherung ist.«
»Er lebt nicht mehr.«
»Oh … , das … , das tut mir leid! Aber wieso … ,
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