1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
es nicht.
Bevor er sich dem Schreibtisch zuwandte, untersuchte er die anderen Möbel und Gegenstände, die es im Wohnzimmer gab, hob sogar das Videogerät an, um zu prüfen, ob irgend etwas darunter versteckt war, und befaßte sich dann mit dem Bücherregal. Den Tausendmarkschein ließ er in der Innentasche seiner Jacke verschwinden. Er nahm die Bücher, es mochte ein knappes Hundert sein, heraus, blätterte in einzelnen Bänden, stellte alles wieder ein. Auf einem der Borde standen etwa zwanzig Videokassetten. Es waren vor allem DEFA-Filme, aber auch einige Western, ein alter Hans-Moser-Streifen und »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« nach dem Roman von Heinrich Böll. Er nahm jede Kassette aus ihrem Schuber, fand nichts. Und dann der Schreibtisch. Er machte es mit System, ging Schublade für Schublade durch, legte nach links, was er mitnehmen, nach rechts, was er zurücklassen wollte. Er fand mehrere Akten aus DDR-Zeiten, war zunächst verwundert darüber. Doch dann sagte er sich. Wer ohnehin zum Schuldbekenntnis bereit ist, befürchtet nicht, daß einzelne Schriftstücke ihn in Schwierigkeiten bringen könnten. Der ist über alles hinaus.
Es traten Schreiben verschiedener Bezirksverwaltungen zutage, in denen von negativen Personen die Rede war. Andere enthielten Berichte von inoffiziellen Mitarbeitern. In einem war bis ins kleinste aufgeführt, was ein gewisser Lutz Bornemann an einem bestimmten Tag unternommen hatte. Auch einige Ablichtungen aus Gerichtsakten fielen ihm in die Hände. Es ging dabei vor allem um Personen, die beim Versuch der Republikflucht gefaßt worden waren. Er überflog Fahndungsberichte, Protokolle von Stasi-Veranstaltungen und schließlich eine Liste mit Tarnnamen von Personen, die der Stasi zugearbeitet hatten und die vielleicht heute noch bangten, dieser Beleg würde eines Tages auf einem Richtertisch landen.
Und dann fand er noch etwas, nämlich einen Stapel privater Post, der sogar mit einem Seidenbändchen verschnürt war. Er löste das Band, fächerte den Stapel leicht auseinander. Es mochten an die zwanzig Briefe sein, jeder noch in seinem Umschlag, dazu ein paar Postkarten. Es war immer dieselbe Handschrift. Den Text der Karte, die obenauf gelegen hatte, las er durch. Es war ein Feriengruß aus Wittdün. Von Angelika, der Tochter. Und da stand auch, daß der Junge einen toten Seehund gefunden hatte. Gut, dachte Kopjella, daß unser Mann grad diese Karte gelesen hat, denn mit dem Seehund vor allem hab’ ich Fehrkamp kirre machen können.
Auch diese Privatpost legte er zu den Papieren, die aus der Wohnung entfernt werden mußten. Zum Schluß geriet er dann noch an jenes Utensil, das ihm Horst Fehrkamp in seiner Not hatte zeigen wollen, die Brieftasche aus Ziegenleder. Sie war schon reichlich abgenutzt. Er prüfte die einzelnen Fächer, förderte ein paar Visitenkarten, Einkaufsbelege, alte DDR-Briefmarken und zwei Fotos von Gertrud Fehrkamp zutage, steckte alles zurück und legte die kleine Mappe wieder in die Schublade.
Danach beseitigte er seine Fingerabdrücke, spülte die Zigarettenkippen im WC weg und holte aus der Besenkammer einen der dort gestapelten baumwollenen Einkaufsbeutel, verstaute darin alles, was er an sich nehmen wollte.
Noch einmal trat er an den Toten heran. Es sollte eine abschließende, der eigenen Sicherheit dienende kritische Bestandsaufnahme werden, aber was dabei herauskam, war eine Gedenkminute. Warst eigentlich ein guter Mann, im Dienst und auch privat, hattest Geist, Phantasie, Humor. Und Mut hattest du auch, denn das EK I kriegte man nicht für zackiges Auftreten, da mußte man schon seinen Kopf hingehalten haben. Schade, daß es dieses Ende genommen hat mit dir …
11
Paul Kämmerer hatte im Laufe der letzten Jahre viele Personen befragt, von denen er angenommen hatte, sie könnten über Tilmanns Schicksal etwas wissen, doch war, außer jetzt im Fall Schöller, keinerlei Ergebnis dabei herausgekommen. Entweder wußten sie wirklich nichts, oder sie verschwiegen, was sie wußten, weil sie ihn und den Jungen zu DDR-Zeiten belastet hatten und nun bemüht waren, sich aus allem herauszuhalten.
Als er sich an diesem Vormittag die vielen Türen, an die er geklopft, und die vielen Menschen, mit denen er gesprochen hatte, noch einmal vor Augen führte, befiel ihn zunächst die alte Resignation. Es war ja leider so, daß die meisten Befragten vor dem Zusammenbruch des Regimes öffentliche Ämter
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