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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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wollen, er sei von seinem Vater im Stich gelassen worden. Was für ein Frevel! dachte er. Und ich weiß ja nicht mal, ob der Junge diese grauenhafte Unterstellung mit hinübergenommen hat.

12
    Ich will keine Rache, Kopjella! Auge um Auge, Zahn um Zahn, das ist nicht mein Geschäft, denn was brächte es mir, dich tot und an einem nur mir bekannten Ort verscharrt zu wissen?
    Ich will von dir auch kein lückenloses Register der Schurkereien, die du im Namen unserer unsäglichen Republik begangen hast. Sie interessieren mich nicht.
    Ich will nicht wissen, auf wie viele Menschen du Jagd gemacht hast. Nein, ich will Rechenschaft von dir in einem einzigen Fall. Ich frage, und du antwortest.
    Paul Kämmerer saß in seinem Wohnzimmer. Er hatte Halle nach einer weiteren, unruhig verbrachten Hotelnacht am frühen Morgen verlassen und war nach Berlin gefahren, um dort noch einmal im ehemaligen Jugendgefängnis nachzuforschen, hatte jedoch nichts Neues erfahren. Gegen halb zehn war er zu Hause angekommen, hatte geduscht, sich umgezogen und sich dann, mit Blick auf den langsam ins Abendlicht eintauchenden Garten, an die offene Terrassentür gesetzt.
    Ich gestehe dir sogar zu, daß deine Aktionen, die heute als verwerflich oder sogar als strafwürdig gelten, aus Gründen der damaligen Staatsräson teilweise vertretbar, wenn nicht gar geboten waren. Aber um die geht es mir überhaupt nicht. Es geht mir um jenen Freiraum des Handelns, der, jenseits aller Befehle, von der Phantasie des einzelnen ausgefüllt wird. Ich meine also die Taten, die du in deinem Fahndungsrausch selbst ersonnen hast. Ich weiß, es gab im Ministerium für Staatssicherheit die Abteilung OT, die Operative Technik. Dort wurden Pässe und Ausweise und viele andere Urkunden, auch Briefe, gefälscht, und eine Sonderabteilung der OT war zuständig für die konspirative Ton- und Fototechnik, in der eure mörderischen Hörspiele, Dia-Serien und Filme entstanden. Du sollst mir sagen, welche Köpfe ihr auf welche Körper montiert habt, um anschließend euren Triumph auf die Bedrängten abzuschießen. Na, ist das nun deine Frau, oder ist sie es nicht, die da Hand in Hand mit dem BRD-Mann in die Absteige geht? Ist das dein Sohn, oder ist er es nicht, der da am Bahnhof Friedrichstraße das Couvert aushändigt und hier, auf dem nächsten Bild, den Gegenwert in Empfang nimmt. Ist es dein Vater, oder ist er es nicht, der da in den schwarzen Mercedes steigt, von dem wir wissen, daß es sich um ein BND-Fahrzeug handelt? Und so weiter. Ich habe großen Respekt vor Bertolucci, Hitchcock, Woody Allen und wie sie alle heißen, auch vor den DEFA-Leuten, die so viele gute Filme gemacht haben, Geschichten, die die Menschen anrührten, aufregten, fesselten, vielleicht ihren Protest hervorriefen, aber niemals das Ziel hatten, die Zuschauer zu zerstören. Ihr habt zerstört, systematisch, konsequent. Habt eure Opfer mit erlogenen Bildern mürbe gemacht. Und du, Kopjella, hast alle übertrumpft, hast die Spirale der teuflischen Möglichkeiten noch um eine Windung weitergedreht, hast dir etwas ganz Perfides einfallen lassen, die Verunglimpfung eines Vaters, damit ein Sechzehnjähriger daran zerbricht. Wie bist du darauf gekommen? Ja, ich will wissen, wie der Plan, einem Jungen mit Hilfe gefälschter Dokumente die Seele zu vergiften, entsteht und wie er dann heranreift und dabei von keinem humanen Impuls, von keinem Hauch eines Skrupels in Frage gestellt wird. Das, Kopjella, sollst du mir sagen. Und natürlich auch, wie Tilmann gestorben ist und wo er begraben liegt!
    Er sah, wie die Buchenhecke ihre Konturen verlor und zu einer dunklen Wand wurde, sah auch den blaßrosa schimmernden Himmel ins Grau übergehen, hörte die Geräusche der Stadt, gedämpft nur, das Sirren von Autoreifen auf dem Asphalt und ganz fern das Martinshorn eines Ambulanzwagens.
    Er lebte gern in Hamburg, mochte die freundliche Gelassenheit seiner Menschen und befand sich in einer beruflichen Situation, wie sie angenehmer nicht hatte sein können. Er war der zweite Chef eines eingeführten Unternehmens und würde irgendwann der erste sein. Aber er war ein einsamer Mann. Mit seinem Onkel verband ihn ein auf Vertrauen und Zuneigung beruhendes Verhältnis, doch ein Onkel war eben nur ein Onkel, und so fehlte ihm jenes andere Band, das, wenn es reißt, bis in die letzte Herzfaser schmerzt.
    Es war, trotz der vom Staat verhängten Drangsal und der Trauer über Marias frühen Tod, eine erfüllte Zeit, die er mit Tilmann in

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