1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
drei Sekunden später stand der Mann wieder vor mir.
›Also, das Ganze von vorn! Woher stammen die Blätter?‹
›Von meiner Freundin.‹
›Name, Alter, Adresse.‹
Ich antwortete wie ein Automat.
Dann kam die Aufforderung: ›Nun erzählen Sie mal! Aber ganz ruhig und ohne etwas auszulassen. Von dem Augenblick an, als Ihre Freundin mit dem Koffer bei Ihnen aufgetaucht ist. Los!‹
Und auch jetzt verschwieg ich ihm …« Sie zögerte, schloß die Augen, und Kämmerer hatte Mühe, ruhig zu bleiben auf seinem Hocker. Endlich öffnete sie die Augen wieder und sprach weiter: »Ich verschwieg ihm nichts. Ich sagte alles. Alles, verstehen Sie? Ich verriet Brunhilde, sagte, daß die Kleider im Koffer meiner Mutter gehörten und wir sie in größter Eile gegen die Flugblätter ausgetauscht hatten. Herr Kämmerer …«, wieder stockte sie, mußte mehrmals ansetzen, ehe es, fast nur geflüstert, weiterging, »ich lieferte meine Freundin Brunhilde Jacobi den Henkern aus. Herr Kämmerer, was sagen Sie dazu?«
»Sie mußten es tun«, war seine Antwort.
»Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht?«
»Genau das gleiche.«
»Ehrenwort?«
Er lächelte sie an: »Ich schwöre es Ihnen bei allem, was mir lieb und teuer ist!«
»Haben Sie das auch gut durchdacht? Es wirkt so begreiflich, nicht wahr? Die Freundin oder die Eltern, das ist eine Abwägung, bei der man der Tochter nicht übelnehmen kann, daß sie sich zugunsten der Eltern entscheidet.«
»Genauso ist es.«
»Haben Sie da nicht etwas vergessen? Eine winzig kleine … , nein, eine riesengroße dritte Möglichkeit? Sehen Sie die nicht?«
»Ich weiß nicht … , nein, die seh’ ich nicht.«
»Dann sind Sie auf beiden Augen blind, mein junger Freund.«
»Aber wieso …«
»Schließlich standen, wenn wir meine Eltern als Einheit betrachten, nicht nur zwei Opfer zur Auswahl, sondern drei.«
»Drei?«
»Ja, Sie haben mich übersehen. Niemand hätte es mir widerlegen können, wenn ich gesagt hätte, ich sei die Schuldige. Ich hätte die Flugblätter schon vor Tagen in Verwahrung genommen, um sie in einer bestimmten Nacht auf dem Stachus oder in der Maximilianstraße oder von einem unserer Kirchtürme aus dem Wind zu überlassen, damit er sie zu den Menschen weht.«
Er senkte den Blick, saß ein paar Augenblicke lang stumm da. Aber dann schüttelte er den Kopf, erst langsam, doch mit einem Mal energisch und schnell:
»Nein! Nein, Frau Engert, Sie irren sich! Sie hätten Hintermänner angeben müssen, und das hatten Sie nicht gekonnt. Man hätte Sie nach Gleichgesinnten gefragt, nach Ihrer Widerstandsgruppe, und Sie hätten nicht einen einzigen Namen gewußt! Man hätte Ihnen befohlen: ›Führen Sie uns zur Druckerei!‹ Und Sie hätten beim Verlassen Ihres Elternhauses keine Ahnung gehabt, in welche Richtung Sie hätten gehen müssen. Glauben Sie mir, man hätte Sie schnell durchschaut.«
Sie sah ihn lange an, bevor sie ihm die Frage stellte: »Ist das nun Ihre Höflichkeit? Ihr Mitgefühl mit der alten Frau, die dieses Gewissenspaket seit fünfzig Jahren mit sich herumschleppt? Oder wissen Sie wirklich nicht, wo meine Chance gelegen hätte?«
»Sie hatten keine.«
»Doch. Die Schuld auf mich zu nehmen, wäre ja nur die eine Seite der Medaille gewesen, zu der dann auch die andere gehört hatte, nicht einen einzigen Namen, nicht einen einzigen Ort preiszugeben.«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Das ist unrealistisch«, sagte er. »Was meinen Sie, wie die in ihren Folterkellern mit Ihnen umgegangen wären, wenn Sie jede weitere Information verweigert hätten! Man hätte Sie halbtot geschlagen, wer weiß, vielleicht sogar auch Ihre Eltern gefoltert oder zumindest damit gedroht, und Sie hätten von Ihrer Zelle aus nicht überprüfen können, ob man die Drohung wahrmacht. Begreifen Sie doch, Sie haben richtig gehandelt! Es ist barbarisch, Menschen in eine Lage zu bringen, in der sie gleichsam über den Tod entweder der Eltern oder der Freundin entscheiden müssen, aber so sieht er aus, der Psychoterror der Unterdrücker.« Er beugte sich vor, nahm ihre beiden Hände, preßte sie, ließ sie wieder los: »Mein Gott, da lebt man jahrelang in enger Nachbarschaft und weiß nicht, was den anderen plagt!«
»Aber nun wissen Sie Bescheid. Und damit wissen Sie auch, daß es umgekehrt ist. Nicht ich helfe Ihnen, sondern Sie helfen mir, wenn ich weitermachen darf. Endlich, nach fünfzig Jahren, könnte ich ein zweites Mal in einer Sache auf Leben und Tod eine Entscheidung treffen, könnte mich
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