1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
als habe sie seine warnenden Worte gar nicht in sich eindringen lassen. Jetzt ging sie sogar in die Küche und holte den frischen Kaffee, den sie zubereitet hatte, während er telefonierte, stellte Gebäck dazu.
»Die Studienjahre damals«, fuhr sie dann fort, »waren eine aufregende und bewegte Zeit, und das nicht nur, weil Krieg herrschte. Die meisten Studenten ließen sich mitreißen vom politischen Sog, aber es gab auch einige, die sich dagegenstemmten. Was die Professoren in ihren Vorlesungen und Seminaren an Kommentaren äußerten, wurde von den Studenten beider Lager seismographisch registriert, vor allem die Zwischentöne. Ich studierte Jura, und natürlich war das ein von nationalsozialistischen Tendenzen durchsetztes Gebiet, genau wie die Geschichte, die Geographie, die Kunst und viele andere Bereiche. Wie sehr zum Beispiel die Medizin vom Rassismus der Nazis mißbraucht wurde, weiß heute jeder. Ich will mich kurz fassen. Ich selbst war nie im aktiven Widerstand, aber Brunhilde schloß sich dem Kreis um Professor Huber an, der zur Leitfigur der Weißen Rose geworden war. Auch die Geschwister Hans und Sophie Scholl gehörten zu dieser Widerstandsgruppe. Sie wurden dann ja, wie später auch Huber, zum Tode verurteilt.«
Sie machte eine Pause, trank von ihrem Kaffee, und in diesen Moment der Stille hatte er einfallen, hätte versuchen können, dem Gespräch eine Wendung zu geben und es von der fünfzig Jahre zurückliegenden Bedrohung auf die jetzige, die akute, zu lenken. Er unterließ es, aber nicht aus Höflichkeit, sondern weil er spürte, er würde es nicht schaffen.
Sie setzte die Tasse ab. »Brunhilde und ich hatten uns eine längere Zeit nicht gesehen. Wie gesagt, ich studierte Jura, sie aber Musikwissenschaft, und so kreuzten sich unsere Wege auch in der Uni nur selten. Eines Abends – ich war mit Laura, meiner fünf Jahre jüngeren Schwester, allein, denn unsere Eltern nahmen an einer Veranstaltung der Anwaltskammer teil –, klingelte es an der Haustür. Wir bewohnten damals eine alte zweigeschossige Villa, die schon unseren Großeltern gehört hatte. Bitte, denken Sie jetzt nicht, ich wollte meinen Bericht mit architektonischen Einzelheiten ausschmücken! Die zwei Etagen spielen eine wichtige Rolle. Die Kinderzimmer – ich nenne sie mal so, obwohl wir Mädchen schon zwanzig und fünfzehn Jahre alt waren – lagen unten, ebenso die Küche, das Eß- und das Wohnzimmer. Im Obergeschoß hatten die Eltern ihr Schlafzimmer, und daneben befand sich das Arbeitszimmer meines Vaters, das private. Die Praxis war in der Innenstadt. – Es hatte also geklingelt. Laura machte auf, und da stürzte Brunhilde herein, in der Hand einen Koffer.
›Ich brauch’ deine Hilfe!‹ begrüßte sie mich, ›aber erst müssen wir nach oben, um zu sehen, ob ich verfolgt werde.‹
Sie kannte unser Haus genau und wußte, daß beim Blick aus den Fenstern des Erdgeschosses Straße und Bürgersteig von einer Hecke verdeckt wurden. Aber vom oberen Stockwerk aus konnte man über die Büsche hinwegsehen. Wir stürmten also die Treppe hoch, wobei Brunhilde immer noch ihren Koffer in der Hand hatte, liefen ins Arbeitszimmer und da gleich ans Fenster. In diesem Moment kam das Auto.
›Schnell!‹ schrie sie und bückte sich, klappte den Koffer auf, packte mit ein paar wilden Handgriffen die durch dicke rote Gummibänder zusammengehaltenen Papierbündel, die er enthielt, warf sie auf den Fußboden. ›Die müssen weg!‹ sagte sie dann noch. Ich riß den Aktenschrank meines Vaters auf, zog im untersten Regal fünf, sechs dicke Ordner heraus und stopfte die vielen Stapel – es waren ein paar Hundert Flugblätter – da hinein, ganz weit nach hinten, stellte die Ordner wieder ein und schlug die Schranktür zu.
›In den Koffer muß jetzt was anderes!‹ rief Brunhilde. Wir rannten ins Ankleidezimmer meiner Eltern, klaubten aus Schränken und Kommoden einige Sachen meiner Mutter, schleuderten sie in den Koffer – einen Rock, eine Bluse, Kleider, Strümpfe, Wäsche. Als es an der Haustür klingelte, waren wir gerade fertig geworfen. Sofort liefen wir wieder ins Arbeitszimmer, stellten den Koffer neben den Schreibtisch, warfen uns in die Sessel und versuchten, unseren Atem zur Ruhe zu bringen. Da hörten wir auch schon die Stimmen. Männerstimmen. Laura hatte geöffnet, und nun polterten die schweren Stiefel über die Treppe. Wir hörten noch, wie Laura von unten rief: ›Zweite Tür links.‹
Sie klopften sogar, und ich bemühte mich,
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