1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
sie die Kartoffeln und die tiefgekühlten jungen Erbsen aufsetzen und für den Nachtisch ein Glas Mirabellen aus dem Keller holen.
Es klingelte an der Haustür. Im ersten Moment dachte sie, Kämmerer sei zurück, doch dann fiel ihr ein, daß er ja von der Garage aus ins Haus gehen würde.
Sie ging die Treppe hinunter, und kaum hatte sie einen Blick durch die große, geriffelte, in die Haustür eingelassene gelbe Glasscheibe geworfen, erschrak sie.
Da war er!
Wenn sie nicht alles täuschte, stand der Schmächtige, den sie vor drei Tagen auf Kämmerers Grundstück entdeckt und dann fotografiert hatte, wenige Schritte vor ihr, getrennt allein durch das Glas.
Sie war wie gelähmt. Aber in ihrem Kopf gingen die wildesten Gedanken um, wechselten dabei blitzschnell hin und her zwischen absolut gegensätzlichen Positionen. Stehenbleiben! Nichts tun! Das war die eine Möglichkeit, und dazu war durchaus Gelegenheit gegeben, ohne daß der Mann denken mußte, es sei jemand im Haus und weigere sich, an die Tür zu kommen, denn im Flur war es schummerig. Daß hingegen sie ihn sehen konnte, lag daran, daß er im hellsten Tageslicht stand.
Die Alternative. Doch öffnen! Und dann sehen, was draus wird! Wenn er jetzt geht, kommt er vielleicht nie wieder, und vielleicht ist dies überhaupt die einzige Chance! Aber was soll ich ihm sagen? Etwa. Nein, über Herrn Kämmerer weiß ich nichts? Dann ist es doch fast so, als hätte ich gar nicht aufgemacht.
Sie faßte einen Entschluß. Er war kühn und nicht bis zu Ende durchdacht, würde aber, wenn sie ihn ausführte, unter Umständen Erfolg bringen. Ganz flüchtig kam ihr noch der Gedanke, daß es auf der Welt unzählig viele schmächtige Männer gab, allein in Hamburg bestimmt etliche Zehntausend, und daß der vor ihrer Tür nicht unbedingt derselbe sein mußte, den sie fotografiert hatte. Aber ihr genügte, daß er es sein konnte, und also öffnete sie.
Ein junges, freundlich lächelndes Gesicht. Das war ihr spontaner Eindruck. Doch schon der zweite Blick verriet ihr. Das Lächeln nahm nicht das ganze Gesicht ein. An den Augen machte es halt. Oberhalb der Stirn ging es dann wieder lustiger zu, denn das volle dunkelblonde Haar war windzerzaust, wie das eines Jungen, der draußen gespielt hat.
Aber die Augen! Dabei wirkten sie nicht böse, hatten nur – sie waren grün mit braunen Sprenkeln – die starre Klarheit von Glasmurmeln.
Der Mann verbeugte sich leicht und sagte:
»Guten Tag. Vogt ist mein Name. Bitte, entschuldigen Sie die Störung! Ich suche jemanden, den ich dringend sprechen muß, und vielleicht sind Sie in der Lage, mir zu
helfen.«
»Um wen geht es denn?«
»Um Herrn Kämmerer, der das Haus gegenüber
bewohnt. Ich habe schon mehrfach versucht, ihn telefonisch zu erreichen, aber da meldet sich niemand. Und an seiner Tür war ich auch schon. Wissen Sie zufällig, ob er verreist ist?«
»Ach, der Herr Kämmerer! Ja, der ist viel unterwegs. Ich
selbst kann Ihnen leider nicht sagen, wo er sich jetzt aufhält, aber mein Sohn könnte Ihnen bestimmt weiterhelfen. Er kümmert sich nämlich drüben um den Garten und um die Zimmerpflanzen, und er schickt ihm auch die Post nach. Aber er kommt erst …«, sie sah auf ihre Armbanduhr, »das heißt, er müßte längst hier sein, hat sich mal wieder verspätet. Also, wenn Sie auf ihn warten wollen?«
»Gern. Ich geh’ dann ein bißchen spazieren.«
Sie zögerte einen Moment, und dann tat sie, als gäbe sie sich einen Ruck: »Ach was, kommen Sie herein! Was sollen Sie da draußen auf und ab marschieren.« Sie machte die Tür ganz auf, lächelte den Fremden an, und der trat ein.
»Vielen Dank«, sagte er.
Sie führte ihn ins Wohnzimmer, bot ihm einen Stuhl an, setzte sich dazu. Sie wußte, die Situation war heikel. Schon das Nähertreten entsprach nicht dem, was Hausbesitzer fremden Menschen, die an ihre Tür kommen, einzuräumen pflegten, und so gab sie schnell eine Erklärung ab für ihr ungewöhnliches Verhalten, damit er nur ja keinen Verdacht schöpfte:
»Unbekannte soll man ja eigentlich nicht hereinlassen, aber ich denke, mit meinen siebzig Jahren hab’ ich Menschenkenntnis genug. Sie sind nicht der Mann, der einer alten Frau das Sparbuch wegnehmen will, das übrigens auch gar nicht hier wäre.«
»Was? Schon siebzig? Mitte Fünfzig hätte ich geschätzt.«
»Danke, junger Mann. Selbst wenn Sie jetzt ein bißchen geschwindelt haben sollten, freu’ ich mich über das, was Sie sagen. Sie wissen ja, die Eitelkeit
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