1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
endet nie.«
So redete sie, und dabei war ihr weiß Gott nicht zum Plaudern zumute. Im Gegenteil, sie erlebte, wie kompliziert es war, sich gedanklich auf zwei so ganz und gar verschiedenen Ebenen zu befinden. »Ja, also der Herr Kämmerer«, fuhr sie fort, »er ist ein sehr netter Nachbar. Sie kennen ihn?«
»Persönlich bin ich ihm nie begegnet, aber mein Vater war drüben in Halle in einer Firma tätig, in der er auch gearbeitet hat. Das war ein volkseigener pharmazeutischer Betrieb. Die Pharmazie ist dann auch mein Fach geworden. Herr Kämmerer ist ja schon lange im Westen und auch hier wieder in unserer Branche tätig. Na ja, und da wollte ich einfach mal ein Gespräch mit ihm fuhren über meine beruflichen Möglichkeiten in der Hansestadt.«
»Wenn er kann, wird er Ihnen bestimmt helfen. Bleiben
Sie länger in Hamburg?«
»Ein paar Tage, aber sollte er grad Ferien machen, würde ich ihm gern an seine Urlaubsadresse schreiben.«
Ihr war klar. Wenn dieser Mann tatsächlich etwas zu tun hatte mit Tilmanns Tod, dann trieb sie jetzt ein gefährliches Spiel, zumal sie noch immer nicht wußte, wie sie sich bei Kämmerers Rückkehr verhalten sollte.
»In Halle leben Sie also?« fragte sie.
»Ja, und da ist es jetzt sehr schwer, eine Arbeit zu finden.«
»Ich weiß gar nicht genau, was Herr Kämmerer beruflich macht, aber mein Sohn sagte neulich mal, in seinem Betrieb würden Farbstoffe hergestellt und eines Tages würde er die Firma sogar übernehmen, denn sein Onkel …«
Dumpf wie fernes Gewitter drang das Geräusch der sich schließenden Garagentür ins Haus.
»Mein Sohn!« rief sie aus, und dann richtete sie ebenso verzweifelte wie entschlossene Appelle nach innen. Mensch, Luise, nun mach um Himmels willen keinen Mist! Nimm dich zusammen und laß dir was einfallen!
Sie stand auf. Auch der Fremde wollte sich erheben, aber sie sagte:
»Bitte, bleiben Sie sitzen! Ich muß meinen Sohn nur abfangen, ehe er nach oben in seine Wohnung geht.« Damit verschwand sie hinaus auf den Flur, ließ die Tür hinter sich halb geöffnet.
Sie hatte alles gut aufeinander abgestimmt, denn Kämmerer kam soeben herein. Als erstes hob sie warnend die Hände, ließ danach die linke wieder sinken und zeigte mit der rechten auf die Wohnzimmertür, wobei sie heftig mit den Augen zwinkerte, und dann ging es los:
»Martin, endlich bist du da! Du weißt doch, du sollst deine Mutter nicht so lange allein lassen oder wenigstens anrufen, wenn du dich verspätest! Hast du mir meine Medizin mitgebracht?«
Kämmerer hatte nur eine Sekunde gebraucht, um ihre Zeichen zu verstehen, und auch als dann die Worte kamen, begriff er sofort, daß es im Wohnzimmer jemanden gab, für dessen Ohren dieser Ausbruch bestimmt war.
»Ach Mutter«, sagte er, »schimpf doch nicht immer! Klar hab’ ich deine Medizin mitgebracht, und außerdem hab’ ich Schollenfilets besorgt.«
»Aber wir hatten erst gestern Fisch!«
»Dann frieren wir die Dinger eben ein. Nun laß mich nach oben, ich bin …«
»Warte noch, Martin, da ist Besuch. Das heißt, eigentlich nicht für uns, sondern für Herrn Kämmerer. Der Herr meinte, wir wüßten vielleicht, wo er ist, und weil du drüben ein- und ausgehst, hab’ ich gesagt, du würdest ihm sicher helfen können. Du hast doch seine Ferienadresse, nicht wahr?«
»Ja, die hab’ ich.«
Sie durften sicher sein, daß im Wohnzimmer alles mitgehört worden war, und traten nun dort ein, Paul Kämmerer als erster.
»Guten Tag«, sagte er und gab dem Besucher, der aufgestanden war, die Hand.
»Vogt.«
»Engert. Aber behalten Sie doch Platz!«
Als alle drei saßen, sagte Luise Engert zu Paul Kämmerer:
»Der Vater von Herrn Vogt und Herr Kämmerer haben in Halle in ein und derselben Firma gearbeitet, und jetzt braucht er, also der Sohn …«, sie nickte kurz in die Richtung des Fremden, »Informationen über seine beruflichen Möglichkeiten in Hamburg. Pharmazie. Das ist doch auch das Fachgebiet von Herrn Kämmerer, nicht wahr? Oder es ist die Chemie.«
Kämmerer hatte anfangs gedacht, der Mann könne durchaus ein harmloser Fragesteller sein und in ihrem Eifer habe sich Frau Engert vielleicht in eine falsche Überlegung verrannt, aber jetzt wußte er, daß sein Gegenüber nicht echt war, denn einen Kollegen mit dem Namen Vogt hatte es in Halle nicht gegeben. Und auch aus Altersgründen kamen die drei Mitarbeiter, die er dort gehabt hatte, für die genannte Vaterrolle nicht in Betracht. Keiner von ihnen war über Vierzig gewesen.
»Der
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