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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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möchte nur kurz mit der kleinen Tsubasa sprechen.«
    »Tsubasa ist auf ihrem Zimmer«, sagte eine Frau in Aomames Alter. Sie hatte langes glattes Haar.
    »Mit Saeko. Sie kann anscheinend noch immer nicht herunterkommen«, warf eine etwas ältere Frau ein.
    »Sie braucht wohl noch etwas Zeit«, sagte die alte Dame mit einem Lächeln.
    Die drei Frauen schwiegen und nickten jede für sich. Sie wussten genau, was es bedeutete, Zeit zu brauchen.
    Als sie in das Zimmer im ersten Stock kamen, bat die alte Dame die kleine, irgendwie schemenhafte Frau namens Saeko, für kurze Zeit unten Platz zu nehmen. Saeko lächelte schwach, verließ den Raum, schloss die Tür hinter sich und stieg die Treppe hinunter. Die zehnjährige Tsubasa blieb zurück. Im Zimmer stand eine Art kleiner Esstisch. Das Mädchen, die alte Dame und Aomame nahmen daran Platz. Die dichten Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen.
    »Diese junge Dame heißt Aomame«, erklärte die alte Dame dem Mädchen. »Sie arbeitet mit mir zusammen. Du brauchst also keine Angst zu haben.«
    Das Mädchen warf einen scheuen Blick auf Aomame, dann nickte es leicht. Die Bewegung war so minimal, dass man sie leicht hätte übersehen können.
    »Das ist Tsubasa«, sagte die alte Dame an Aomame gewandt. Dann fragte sie: »Wie lange bist du jetzt hier, Tsubasa?«
    Das Mädchen zuckte leicht mit den Schultern, um ihr zu bedeuten, sie wisse es nicht. Dabei bewegte sie die Schultern wahrscheinlich nicht einmal einen Zentimeter.
    »Sechs Wochen und drei Tage«, sagte die alte Dame. »Du hast sicher nicht mitgezählt, aber ich zähle genau mit. Weißt du, warum?«
    Die Kleine schüttelte fast unmerklich den Kopf.
    »Weil die Zeit in bestimmten Fällen sehr wichtig sein kann«, sagte die alte Dame. »Allein sie zu messen kann von großer Bedeutung sein.«
    In Aomames Augen sah Tsubasa aus wie jede beliebige Zehnjährige. Vielleicht war sie groß für ihr Alter, aber sie war mager und hatte noch keine Brüste. Sie wirkte wie chronisch unterernährt. Ihr Gesicht war nicht hässlich, aber es hinterließ nur einen sehr schwachen Eindruck. Die Augen ähnelten beschlagenen Fenstern. Es war unmöglich, hineinzusehen, auch wenn man es versuchte. Tsubasas schmale trockene Lippen bewegten sich hin und wieder nervös, als bemühe sie sich, Worte zu formen, aber sie brachte keinen Ton heraus.
    Die alte Dame nahm aus einer Papiertüte, die sie mitgebracht hatte, eine Schachtel mit dem Bild einer Schweizer Berglandschaft. Ein Dutzend hübscher Pralinen, jede anders geformt, befand sich darin. Sie bot Tsubasa eine an, dann Aomame, und schließlich steckte sie sich selbst eine in den Mund. Aomame tat es ihr nach. Nachdem Tsubasa die beiden beobachtet hatte, schob sie sich ihre ebenfalls in den Mund. Schweigend aßen die drei ihre Pralinen.
    »Kannst du dich noch an dein zehntes Lebensjahr erinnern?«, fragte die alte Dame Aomame.
    »Ja, ganz genau«, sagte Aomame. In diesem Alter hatte sie die Hand eines Jungen gehalten und sich geschworen, ihn ihr ganzes Leben lang zu lieben. Wenige Monate danach hatte sie zum ersten Mal ihre Tage bekommen. Sie hatte sich damals innerlich sehr verändert. Sie hatte ihren Glauben aufgegeben und beschlossen, mit ihren Eltern zu brechen.
    »Ich kann mich auch noch genau erinnern«, sagte die alte Dame. »Als ich zehn war, nahm mein Vater mich mit nach Paris, und wir blieben ungefähr ein Jahr lang dort. Er war damals im diplomatischen Dienst. Wir lebten in einem alten Appartement in der Nähe des Jardin du Luxembourg. Der Erste Weltkrieg ging zu Ende, und die Bahnhöfe quollen über von verwundeten Soldaten. Manche waren noch Kinder, aber auch alte Männer waren darunter. Paris ist zu jeder Jahreszeit eine atemraubend schöne Stadt, aber ich habe nur blutige Erinnerungen daran. Bei den Grabenkämpfen an der Front hatten viele Männer ihre Arme und Beine verloren, und es war, als würden Gespenster durch die Straßen irren. Ich sah nur ihre weißen Verbände und den schwarzen Trauerflor, den die Frauen trugen. Ständig wurden mit Pferdekarren Särge auf die Friedhöfe geschafft. Und sooft ein Sarg vorbeizog, blickten die Menschen auf der Straße mit zusammengepressten Lippen beiseite.«
    Die alte Dame legte ihre geöffneten Handflächen auf den Tisch. Nach kurzem Zögern nahm das Mädchen seine Hände aus dem Schoß und legte sie in die der alten Dame. Diese umschloss sie fest. Vielleicht hatten die Eltern der alten Dame ihr auf die gleiche Weise die Hände gedrückt,

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