1Q84: Buch 1&2
ihrer Seele, eine Art leichter, kleiner und undefinierbarer Kern. Ihr kühler Tonfall blieb jedoch die ganze Zeit über gleich.
»Natürlich darf man nicht aus praktischen Erwägungen über ein Menschenleben entscheiden. Weil man zum Beispiel beim Tod des Ehemanns die Zeit für eine Scheidung sparen oder eine Lebensversicherung gleich ausgezahlt bekommen würde. Eine solche Tat kann nur als unvermeidlich gelten, wenn man nach einer streng neutralen Untersuchung aller Fakten zu dem Schluss gekommen ist, dass der Betreffende kein Erbarmen verdient. Das gilt für Männer, die – wie Parasiten – nur leben können, indem sie anderen das Blut aussaugen. Männer, die unheilbar pervers sind, ohne den geringsten Willen zur Besserung, und bei denen nicht im Mindesten einzusehen ist, welchen Wert ihr Weiterleben hätte.«
Die alte Dame verstummte und musterte Aomame mit einem Blick, der eine steinerne Mauer zum Einsturz gebracht hätte. Dann sprach sie mit gelassener Stimme weiter.
»Ich will solche Menschen nur in irgendeiner Form verschwinden lassen. Am besten auf eine Art, die keine Aufmerksamkeit erregt.«
»Ist das denn möglich?«
»Es gibt viele Arten, Menschen verschwinden zu lassen«, sagte die alte Dame nachdrücklich. Sie ließ eine Sekunde verstreichen. »Ich verfüge über die Macht zu bestimmen, auf welche Art jemand verschwindet.«
Aomame überlegte eine Weile, was sie damit meinte. Die alte Dame drückte sich ziemlich verschwommen aus.
»Wir haben beide einen uns wichtigen Menschen auf furchtbare Weise verloren und seelische Verletzungen erlitten, die vielleicht niemals heilen werden. Aber man kann nicht ewig dasitzen und seine Wunden lecken. Man muss sich aufraffen und etwas tun. Nicht aus persönlicher Rache, sondern vielmehr, um Gerechtigkeit zu üben. Was halten Sie davon? Würden Sie mir bei meiner Arbeit helfen? Ich brauche tüchtige Mitarbeiter, auf die ich mich verlassen kann. Menschen, die eine Bestimmung teilen und Geheimnisse wahren können.«
Es dauerte eine Weile, bis Aomame verstanden und verdaut hatte, worum es ging. Ein unglaubliches Geständnis und ein unglaublicher Vorschlag. Sie würde mehr Zeit brauchen, um sich darüber klar zu werden, was sie gegenüber diesem Angebot empfand. Währenddessen saß die alte Dame, ohne ihre Haltung zu verändern, auf ihrem Stuhl und blickte Aomame schweigend an. Sie hatte es nicht eilig. Anscheinend war sie bereit, beliebig lange zu warten.
Offenbar befindet sie sich in einer Art Wahn, dachte Aomame. Aber verrückt ist sie nicht. Auch nicht geisteskrank. Nein, ihr Gemütszustand ist von kaltblütiger, unerschütterlicher Gelassenheit. Es ist nicht Wahnsinn, sondern eher etwas, das an Wahnsinn grenzt . »Gerechtigkeitswahn« kam der Sache vielleicht näher. Jetzt will sie, dass ich diesen Wahn mit ihr teile. Mit der gleichen Kaltblütigkeit. Sie glaubt, dass ich das Zeug dazu habe.
Wie lange saß Aomame dort, tief in ihre Gedanken versunken? Jedes Zeitgefühl kam ihr abhanden. Nur ihr Herz schlug weiter in seinem festen Takt. Sie wanderte durch zahllose Gemächer in ihrem Inneren, schwamm im Strom der Zeit zurück, wie Lachse den Fluss ihrer Herkunft hinaufschwimmen. Sie begegnete vertrauten Szenen und lange vergessenen Gerüchen. Wehmütigen Erinnerungen und heftigem Schmerz. Plötzlich durchbohrte sie von irgendwoher ein feiner Lichtstrahl, und sie hatte das bizarre Gefühl, durchsichtig geworden zu sein. Als sie ihre Hand in das Licht hielt, konnte sie hindurchsehen. Ihr Körper schien auf einmal sehr leicht.
Was habe ich denn zu verlieren, dachte sie, wenn ich mich hier und jetzt dem Wahnsinn und der Gerechtigkeit verschreibe? Selbst wenn es mein Untergang wäre, selbst wenn die ganze Welt unterginge?
»Ich bin einverstanden«, sagte Aomame und presste kurz die Lippen aufeinander. »Wenn ich kann, werde ich Ihnen helfen«, fügte sie hinzu.
Die alte Dame streckte beide Hände aus und drückte Aomames.
Seither teilte Aomame das Geheimnis der alten Dame, ihre Mission und die Sache , die beinahe an Wahnsinn grenzte. Nein, wahrscheinlich handelte es sich ganz und gar um reinen hellen Wahnsinn. Doch wo genau die Grenze verlief, vermochte Aomame nicht zu erkennen.
Außerdem waren die Männer, die sie später gemeinsam mit der alten Dame ins Jenseits befördern sollte, es weiß Gott nicht wert gewesen, dass man sie verschonte.
»Es ist noch nicht viel Zeit vergangen, seit Sie neulich diesen Mann in dem Hotel in Shibuya aus dem Weg geräumt
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