1Q84: Buch 1&2
zusammen gefressen.«
»Es kommt kein Tiger«, sagte Fukaeri in außergewöhnlich ernsthaftem Ton.
»Da bin ich froh«, sagte Tengo. Aber besonders glücklich fühlte er sich nicht. Wahrscheinlich würde wirklich kein Tiger kommen, aber man konnte nie wissen, was sie stattdessen noch alles erwartete.
Die beiden standen vor einem Fahrkartenautomaten am Bahnhof Shinjuku. Tengo an der Hand haltend, sah Fukaeri ihn an. Der Strom der Menschen floss an den beiden vorbei.
»Also gut, du darfst bei mir übernachten«, sagte Tengo ergeben. »Ich kann ja auf dem Sofa schlafen.«
»Danke«, sagte Fukaeri.
Es war das erste Mal, dass er so etwas wie Dank aus ihrem Mund hörte. Oder nein, vielleicht doch nicht. Aber er konnte sich partout nicht erinnern, wann das erste Mal gewesen war.
KAPITEL 19
Aomame
Frauen, die Geheimnisse teilen
»Die ›Little People‹?«, fragte Aomame sanft und sah dem Mädchen ins Gesicht. »Wen meinst du denn damit?«
Doch Tsubasas Mund blieb fest verschlossen, und ihre Augen waren so ausdruckslos und ohne jede Tiefe wie zuvor. Es war, als habe allein die Äußerung dieses Wortes den größten Teil ihrer Energie verbraucht.
»Sind das Leute, die du kennst?«, fragte Aomame.
Natürlich keine Antwort.
»Sie hat diesen Ausdruck schon mehrmals erwähnt«, sagte die alte Dame. ›Little People‹. Was er bedeutet, weiß ich nicht.«
Den Worten »Little People« wohnte ein unheilvoller Klang inne. Er war leise wie fernes Donnergrollen, aber Aomame vermochte ihn wahrzunehmen.
»Waren es diese Little People, die sie so zugerichtet haben?«, fragte sie die alte Dame.
Diese zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Zweifellos besitzen diese Little People für sie eine große Bedeutung, welche auch immer.«
Das Mädchen hatte seine beiden kleinen Hände nebeneinander auf den Tisch gelegt und starrte, ohne die Haltung zu verändern, mit trüben Augen auf einen Punkt im leeren Raum.
»Was in aller Welt ist passiert?«, fragte Aomame die alte Dame.
»Es wurden alle Anzeichen von Vergewaltigung entdeckt«, sagte diese in fast beiläufigem Ton. »Es muss immer wieder geschehen sein. Sie hat mehrere schlimme Risswunden an den äußeren Genitalien und in der Vagina, und auch die Gebärmutter wurde verletzt. In ihren kleinen, noch unentwickelten Unterleib wurde das erigierte Geschlechtsteil eines erwachsenen Mannes eingeführt. Dadurch wurde der Teil, in dem die Eizellen sich einnisten, stark beschädigt. Der Arzt meint, dass sie später auf keinen Fall mehr Kinder bekommen kann.«
Es schien, als habe die alte Dame halb absichtlich so offen vor dem Mädchen gesprochen. Tsubasa hörte wortlos zu. Es war keine Veränderung in ihrem Ausdruck zu erkennen. Ihre Lippen bewegten sich ab und zu ganz leicht, aber kein Laut entschlüpfte ihnen. Das Mädchen wirkte, als würde es mehr oder weniger aus Höflichkeit einem Gespräch über eine unbekannte Person lauschen, die sich an irgendeinem fernen Ort befand.
»Das ist nicht alles«, fuhr die alte Dame ruhig fort. »Selbst wenn die Funktionsfähigkeit ihrer Gebärmutter durch eine Behandlung wiederhergestellt werden könnte – und die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt zehntausend zu eins –, wird sie wahrscheinlich mit niemandem Geschlechtsverkehr haben wollen. Ihre schweren Verletzungen weisen darauf hin, dass die Penetration von starken Schmerzen begleitet war. Und zwar immer wieder. Die Erinnerung an diese Schmerzen wird nicht so leicht vergehen. Du kannst mir folgen, nicht wahr?«
Aomame nickte. Sie hatte ihre Finger fest in ihrem Schoß verkrampft.
»Das heißt, es liegen keine gesunden Eizellen mehr in ihr bereit. Sie …« – die alte Dame warf einen kurzen Blick auf Tsubasa – »ist unfruchtbar geworden.«
Inwieweit Tsubasa den Inhalt des Gesprächs begriff, wusste Aomame nicht zu sagen. Doch was auch immer sie verstand, in Gedanken war sie ohnehin ganz woanders. Anwesend war sie jedenfalls nicht. Ihr Herz schien weit fort zu sein, verstaut in einem kleinen dunklen verschlossenen Zimmer.
»Ich behaupte ja nicht, dass es für eine Frau der einzige Lebenszweck ist, ein Kind zu bekommen«, fuhr die alte Dame fort. »Es sollte dem Einzelnen freistehen, für welches Leben er sich entscheidet. Dass jemand eine Frau jedoch von vornherein ihres natürlichen Rechts zu gebären beraubt, darf man auf keinen Fall dulden.«
Aomame nickte schweigend.
»Das darf man einfach nicht dulden«, wiederholte die alte Dame. Aomame merkte,
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