1Q84: Buch 1&2
verwandelten sich in eine religiöse Gemeinschaft. Der größte Teil der Mitglieder scheint allerdings geblieben zu sein. Inzwischen sind die Vorreiter auch rechtlich als religiöse Gemeinschaft anerkannt, aber von dem, was in der Gruppe selbst vorgeht, ist in der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt. Grundsätzlich gehört sie zu den buddhistischen Geheimlehren, aber die religiösen Inhalte sind sozusagen Staffage. Und doch haben sie in sehr kurzer Zeit eine ganze Menge Anhänger um sich geschart und sind ziemlich mächtig geworden. Obwohl sie wahrscheinlich mit dieser Schießerei damals irgendetwas zu tun hatten, hat ihr Image nicht gelitten. Weil sie so erstaunlich clever damit umgegangen sind. Am Ende war die Sache sogar noch Reklame für sie.«
Die alte Dame seufzte und fuhr fort.
»Es ist nicht allgemein bekannt, aber die Sekte hat einen Gründer, der als ›Leader‹ bezeichnet wird. Er gilt als ein Mann mit einzigartigen Fähigkeiten. Es heißt, er könne unheilbare Krankheiten heilen, die Zukunft voraussagen und alle möglichen paranormalen Phänomene bewirken. Natürlich alles Taschenspielertricks; dennoch scheint er viele Menschen anzuziehen.«
»Paranormale Phänomene?«
Die alte Dame zog ihre schön geformten Augenbrauen zusammen. »Was das konkret bedeutet, weiß ich nicht. Ich habe, um es deutlich zu sagen, keinerlei Interesse an okkulten Dingen. Dergleichen Betrügereien wiederholen sich seit Menschengedenken ständig und überall auf der Welt. Die Masche ist immer die gleiche. Dennoch findet sie offenbar stets aufs Neue ihre Opfer. Denn die meisten Menschen auf der Welt glauben nicht die Wahrheit, sondern lieber etwas, von dem sie wünschen, dass es die Wahrheit wäre. Manche Menschen können ihre Augen noch so weit aufreißen und in Wirklichkeit doch nichts sehen. Sie zu betrügen, ist anscheinend kinderleicht.«
»Vorreiter«, sagte Aomame. Klang wie der Name eines Schnellzugs. Eine religiöse Gruppe hätte sie dahinter nicht vermutet.
Als Tsubasa das Wort hörte, senkte sie einen Augenblick die Lider, als reagiere sie auf einen besonderen darin verborgenen Klang. Doch sofort öffnete sie die Augen wieder, und ihr Gesicht nahm die gleiche ausdruckslose Miene an. Es war, als sei in ihr plötzlich eine kleine Turbulenz entstanden, die sich ebenso plötzlich wieder gelegt hatte.
»Es war der Gründer der Vorreiter, der Tsubasa vergewaltigt hat«, sagte die alte Dame. »Unter dem Vorwand, sie spirituell zu erwecken, hat er den Geschlechtsverkehr mit ihr erzwungen. Bevor sie ihre erste Periode habe, müsse dieses Ritual vollzogen sein, wurde den Eltern weisgemacht. Nur einem noch unbefleckten Mädchen könne er ein reines spirituelles Erwachen gewähren. Die starken Schmerzen, die dabei entstünden, seien unvermeidlich, denn sie seien das Tor, das auf dem Weg zu einer höheren Ebene zu durchschreiten sei. Die Eltern haben ihm geglaubt. Es ist wirklich erstaunlich, wie einfältig Menschen sein können. Der Fall der kleinen Tsubasa ist nicht der einzige. Dieser Gründer ist zweifellos ein perverser Mensch mit abartigen sexuellen Vorlieben. Die Gemeinde und die Lehre sind für ihn nicht mehr als eine nützliche Kulisse, hinter der er seine persönlichen Begierden verbirgt.«
»Hat dieser Mann auch einen Namen?«
»Den konnte ich bisher leider noch nicht in Erfahrung bringen. Er wird immer nur als ›Leader‹ bezeichnet. Über seinen Charakter, seine persönliche Geschichte und sein Aussehen ist mir nichts bekannt. Meine Nachforschungen haben bisher nichts ergeben. Er wird völlig abgeschirmt. Sein Hauptquartier in den Bergen von Yamanashi ist nicht zugänglich, und in der Öffentlichkeit tritt er so gut wie nie auf. Auch innerhalb seiner Gemeinschaft ist ihm nur eine geringe Zahl von Personen jemals begegnet. Es heißt, er halte sich stets an einem dunklen Ort auf und meditiere.«
»Wir können ihn nicht einfach gewähren lassen.«
Die alte Dame schaute auf Tsubasa und nickte langsam. »Nein, wir müssen verhindern, dass es weitere Opfer gibt. Finden Sie nicht auch?«
»Also müssen wir Maßnahmen ergreifen.«
Die alte Dame streckte wieder ihre Hände aus und legte sie auf Tsubasas. Sie schwieg eine Weile. »So ist es«, sagte sie dann.
»Es ist davon auszugehen, dass sich diese Verbrechen wiederholen, nicht wahr?«, fragte Aomame die alte Dame.
Diese nickte. »Es gibt sichere Beweise dafür, dass innerhalb der Gemeinschaft mehrere Mädchen vergewaltigt wurden.«
»Wenn das wirklich stimmt,
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