1Q84: Buch 1&2
dass ihre Stimme ein wenig zitterte. Anscheinend fiel es ihr schwer, ihre Gefühle zu beherrschen. »Sie hat es ganz allein geschafft, von dort zu flüchten. Wie sie dazu in der Lage war, weiß ich nicht. Aber sie hat nun kein Zuhause mehr, außer bei uns. Denn außer bei uns ist sie nirgendwo sicher.«
»Wo sind denn ihre Eltern?«
Die alte Dame machte ein ungehaltenes Gesicht und trommelte leicht mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. »Ich weiß es nicht. Allerdings haben ihre Eltern diese Grausamkeiten gebilligt. Und letztendlich ist sie auch vor ihnen geflohen.«
»Wollen Sie damit sagen, die Eltern hätten die Vergewaltigung ihrer eigenen Tochter zugelassen?«
»Nicht nur zugelassen. Sie haben sie begünstigt.«
»Warum tut jemand so was …?« Aomame konnte nicht weitersprechen.
Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Eine entsetzliche Geschichte. Wir dürfen dergleichen auf keinen Fall dulden. Hier liegen Umstände vor, die sich nicht so einfach handhaben lassen. Es geht um mehr als um herkömmliche häusliche Gewalt. Der Arzt sagte mir, er müsse die Sache der Polizei melden. Ich habe ihn gebeten, es nicht zu tun, und konnte ihn auch überzeugen, da wir eng befreundet sind.«
»Warum?«, fragte Aomame. »Warum wollen Sie die Polizei denn nicht einschalten?«
»Was dieser Kleinen angetan wurde, verstößt eindeutig gegen das Gesetz der Menschlichkeit. Es handelt sich um eine Tat, vor der auch die Öffentlichkeit die Augen nicht verschließen sollte, ein feiges Verbrechen, das schwer bestraft werden muss.« Die alte Dame sprach mit großem Nachdruck. »Doch was könnte die Polizei tun, wenn wir die Sache jetzt melden? Sie sehen ja, das Mädchen kann kaum sprechen. Sie wäre außerstande, richtig zu erklären, was geschehen ist, was man mit ihr gemacht hat. Würden wir die Polizei einschalten, könnte es passieren, dass Tsubasa zu ihren Eltern zurückgeschickt wird. Ein anderes Zuhause hat sie nicht, und die Eltern besitzen in jedem Fall das Sorgerecht. Käme sie aber wieder zu ihren Eltern, könnte sich das Gleiche wiederholen. Das kann ich nicht zulassen.«
Aomame nickte.
»Tsubasa wird bei mir aufwachsen«, sagte die alte Dame entschieden. »Ich werde sie auf keinen Fall hergeben. Weder ihren Eltern noch sonst jemandem werde ich sie überlassen. Ich werde mich irgendwohin mit ihr zurückziehen und sie großziehen.«
Aomames Blick wanderte zwischen der alten Dame und dem Mädchen hin und her.
»Und der Mann, der ihr das angetan hat – wissen Sie, wer er ist? Ist es nur einer?«, fragte Aomame.
»Ja, es ist einer, und er ist mir bekannt.«
»Aber man kann ihn nicht vor Gericht bringen, oder?«
»Dieser Mann besitzt große Macht«, sagte die alte Dame. » Sehr große persönliche Macht. Auch über Tsubasas Eltern. Und sie sind noch immer in seiner Gewalt. Es sind Menschen, die weiterhin tun werden, was der Mann ihnen befiehlt. Menschen, die keine Persönlichkeit und kein Urteilsvermögen besitzen. Für sie ist das, was dieser Mann sagt, unbedingtes Gebot. Wenn er ihnen befiehlt, ihm ihre Tochter auszuliefern, haben sie dem nichts entgegenzusetzen und händigen sie ihm guten Mutes aus. Obwohl sie wissen, was mit ihr passiert.«
Aomame brauchte etwas Zeit, um zu begreifen, was die alte Dame gesagt hatte. Sie versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.
»Ist das irgendeine spezielle Gruppe?«
»Ja, eine sehr engstirnige, fast krankhafte.«
»So etwas wie eine Sekte?«, fragte Aomame.
Die alte Dame nickte. »Ja. Noch dazu eine äußerst bösartige und gefährliche Sekte.«
Natürlich. Es konnte sich nur um eine Sekte handeln. Menschen, die taten, was ihnen befohlen wurde. Menschen, die über keine Persönlichkeit und kein eigenes Urteil verfügten. Genau das hätte mir auch passieren können, dachte Aomame und biss sich auf die Lippen.
Natürlich hatte man sie bei den Zeugen Jehovas in keinem praktischen Sinne vergewaltigt. Sie selbst war jedenfalls keiner sexuellen Belästigung ausgesetzt gewesen. Alle »Brüder und Schwestern« in ihrem Umfeld waren heitere und aufrichtige Menschen, die ihren Glauben ernst nahmen und seine Gebote achteten und nötigenfalls bereit waren, ihr Leben dafür zu geben. Aber nicht immer zeitigen gute Absichten auch gute Ergebnisse. Und Vergewaltigung ist nicht immer etwas Körperliches. Gewalt nimmt nicht immer sichtbare Formen an, und nicht bei allen Verletzungen fließt Blut.
Tsubasa erinnerte Aomame an sich selbst, als sie im gleichen Alter war. »Ich
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